28.01.2010 - 18.04.2010
Wer hat gesagt, dass Schriftsteller schreiben, wenn sie dichten? Oft steht am Anfang die Kritzelei und nicht das Wort. Die Phantasie schafft in dem Moment Gestalten, in dem man am wenigsten an sie denkt. Bei den einen zeugt das Aufblitzen kleiner Sonnen von diesem Augenblick, in dem man ganz außer sich und zugleich bei sich ist. Bei anderen überziehen Milchstraßennebel das Blatt. Kritzeln entlastet vom Schreibdruck und vom horror vacui des weißen Blatts.
Wer kritzelt, der erlebt die Vorlust des Schreibens. Er bewegt schon die Schreibhand, schwärzt das Papier, hinterlässt Zeichen und Strukturen, gibt den erträumten Figuren Gesichter, ohne dass er sich der Mühe des sorgfältigen Formulierens und der Askese des genauen Denkens aussetzen müsste. Er ist sprachlos glücklich oder unglücklich, konzentriert oder zerstreut. Oder beides gleichzeitig: Er geht diesseits oder jenseits der Linie, die das Schreiben vom Nichtschreiben trennt, und manchmal macht er auf dieser Linie halt.
Drei verschiedene, parallel stattfindende Ausstellungen folgen den Formen und Stufen des poetischen Kritzelns. Über 60 noch nie ausgestellte Randzeichnungen – unter anderem von Paul Celan und Jakob van Hoddis, Hugo von Hofmannsthal und Peter Huchel, Erich Kästner und Mechthilde Lichnowsky, Eduard Mörike und Rainer Maria Rilke – führen vor Augen, wie sich die kreativen Energien stauen, entladen und auch manches Mal erschöpfen, die letztlich zur Literatur führen. In einem kleinen Werkstattraum gibt der Büchner-Preisträger Martin Mosebach erstmals Einblick in die malerischen Seiten seiner schriftstellerischen Arbeit.
Ein ebenfalls das erste Mal ausgestellter Schatz aus dem Archiv zeigt eine Entlastung vom Schreiben ganz anderer Art, ein Kritzeln und Klecksen höherer Ordnung: Justinus Kerner hat in einem großen Album Fundstücke aller Art, von der eigenen Klecksografie bis zum barocken Kupferstich, so miteinander kombiniert, dass sie – lange vor Aby Warburg – einen Horizont des emblematischen und magnetisierenden, des bedeutsamkeitsstiftenden und poetischen Denkens abstecken.
Zeugt jede Kritzelei, jeder Klecks und jedes Bild für sich von dem Glück des Schriftstellers, schöpferisch zu sein, ohne zu schreiben, so geben Kerners Bildtafeln, in ihrer Fülle betrachtet, das »Optisch-Unbewusste« frei, wie es Walter Benjamin in seiner Kleinen Geschichte der Photographie beschrieben hat: »Der Beschauer fühlt unwiderstehlich den Zwang, in solchem Bild das winzige Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt, zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchgesengt hat, [...] die physiognomischen Aspekte, Bildwelten, welche im Kleinsten wohnen, deutbar und verborgen genug, um in Wachträumen Unterschlupf gefunden zu haben.«