Mit dieser Ausstellung nimmt die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur die besondere Gelegenheit wahr, erstmalig in Deutschland eine solch umfangreiche Retrospektive mit Photographien von Walker Evans zu präsentieren. Das über fünfzig Jahre entstandene Werk des Photographen wird mit weit über 200 Originalabzügen aus den Jahren 1928 bis 1974 vorgestellt, die aus der bedeutenden Privatsammlung von Clark und Joan Worswick stammen, begleitet von einigen Werkgruppen deutscher Sammlungsprovenienz. James Crump, Chief Curator am Cincinnati Art Museum, hat aus der Sammlung Worswick eine qualitätvolle und spannende Auswahl getroffen. Alle Schaffensphasen von Evans werden beleuchtet, die Kontinuität seines Arbeitsansatzes verdeutlicht und ein neu reflektierter Rezeptionsweg beschritten. Crumps Forschungsergebnisse sind in einem begleitenden Katalogbuch dokumentiert, der einen fundierten Text zum Gesamtwerk enthält. Die historisch bedeutende Retrospektive 1971 im Museum of Modern Art in New York, kuratiert von John Szarkowski, hat die Werkrezeption von Walker Evans für lange Zeit bestimmt. In der Zwischenzeit sind durch weitere Recherchen zu Teilbereichen seines Schaffens Aspekte zu Tage getreten, die zu einer vertiefenden Betrachtung des Gesamtwerkes führen.
Walker Evans (1903–1975) gehört zu den großen Persönlichkeiten der Photographiegeschichte des 20. Jahrhunderts. Sein Schaffen ist maßgeblich für eine Photographieausrichtung, die als „dokumentarischer Stil“ bezeichnet wird. Er selbst verwandte im Kontext seiner Tätigkeit die Bezeichnung „lyrische Dokumentation“, worin sich nicht zuletzt sein großes Faible für die Literatur spiegelt, steuerte er zunächst eine Karriere als Schriftsteller an. Ungefähr ab 1928 aber wandelte sich sein Berufsplan und die Photographie erhielt Vorrang.
Über Jahrzehnte hinweg bis in die Gegenwart gewann das umfangreiche photographische Werk von Walker Evans zunehmend Vorbildcharakter. In den fünf Dekaden seines Schaffens hat der Photograph mit nüchtern registrierenden Aufnahmen ein einzigartig authentisches Bild Amerikas aufgezeichnet und wie kein anderer vor ihm mit besonderem Empfinden für das Alltägliche und Subtile – das American Vernacular –, identitätsstiftende und geschichtsträchtige Momente ins Bewusstsein gebracht.
Kommen in der aktuellen Bildauswahl von Evans geschaffene Ikonen der Photographiegeschichte vor, so geschieht dies ohne Pathos und sie stehen im selbstverständlichen Fluss seiner Arbeiten. Persönliches wie Professionelles im produktiven Wechsel zueinander, der Betrachter folgt Evans’ Biographie ebenso wie dem sich wandelnden Zeitbild Amerikas, von der großen Wirtschaftskrise bis hin zu sich stabilisierenden Zeiten und geschäftigem Alltagsgeschehen: Frühe Eindrücke der 1920er-Jahre aus seiner Wohngegend in New York, Bildnisse seiner Freunde und Mitstreiter, die Rückschlüsse auf sein verzweigtes kulturelles Umfeld zulassen, Architekturen des 19. Jahrhunderts, die sich der gewachsenen Lebenskultur zuwenden, Bildreihen aus Tahiti und Kuba, afrikanische Skulpturen und Masken, entstanden im Auftrag des New Yorker Museum of Modern Art, zahlreiche Photographien, aufgenommen in den 1930ern im ländlichen Süden der USA, die im Kontrast zum Lebensstil der Großstädter und Passanten etwa New Yorks stehen. Neben Straßenansichten, amerikanische Denkmale, Schaufensterauslagen fern des Big Business’, kommen Beispiele seiner wichtigen Subway-Photographien vor, aufgenommen mit verdeckter Kamera. Des Weiteren erzählen Interieurs mit ihren bescheidenen Arrangements über das Leben ihrer Bewohner, Bilder, die unwillkürlich an Evans’ Bemerkung „I do like to suggest people by absence“ erinnern. Aus Evans Vorliebe für Typographie, Werbung und Massenprodukte erwachsen magische-fesselnde Aufnahmen, die als eine Vorschau auf die sich bald entwickelnde Pop Art und ihre Assemblagen gesehen werden können.
Decade by Decade richtet ein besonderes Augenmerk auf noch unbekanntere Motive des Photographen, auch auf jene, die in den 1940er-, 1950er- und 1960er-Jahren entstanden. Sie bindet Arbeiten für die Zeitschrift Fortune ab 1945 ein oder solche, die auf Reisen nach London im Auftrag für die Zeitschrift Architectural Forum oder auf Aufenthalte im Haus von Robert Frank in Nova Scotia Ende der 1960er-Jahre zurückgehen. Das letzte photographische Kapitel, das er überlieferte, sind farbige Polaroids verdichteter Teilansichten, seien es Fahrbahnmarkierungen oder Hausbeschilderungen, konkret wie abstrakt und revolutionär zugleich. Sie sind richtungsweisend für eine Art von Farbphotographie, wie sie Evans bereits während seiner Tätigkeit für Fortune angewandt hatte und die er damals zeitweilig kritisch sah. Die Ausstellung zeigt hierzu Beispiele seit den 1940er-Jahren in einer Vitrinenpräsentation. Die neue Form des Umgangs mit Farbe findet Fortsetzung in vielen Werken der nachfolgenden Generation, für sie wirken Walker Evans’ Photographien wie ein Befreiungsschlag. Bis in die Gegenwart erfährt die künstlerische Photographie von seinem Blick auf die Zivilisation und ihren Spuren allseitig Anregung und findet fortwährend neue plausible Transfers.