Iren Stehli (geb. 1953) hat sich mit ihren fotografischen Essays aus Tschechien einen Namen gemacht. Während Jahrzehnten begleitete sie die in Prag lebende Roma-Frau Libuna durch die Wechselfälle ihres Lebens – eine einzigartige Langzeitstudie, bei der die Fotografin nicht nur aussenstehende Beobachterin blieb, sondern auch zur Freundin und engen Vertrauten wurde. Neben diesem «Lebenswerk» hat Iren Stehli aber seit 1974 auch viele weitere Projekte realisiert, die sich durch eine besondere Mischung aus Faszination und Anteilnahme auszeichnen. Mit sensiblen Bildern hält sie fest, wie Menschen ihren Alltag und den politischen Umbruch bewältigen, wie sie wohnen und ausgehen, wie sie Freude und Trauer teilen oder ihre Einsamkeit überwinden. Die Ausstellung der Fotostiftung Schweiz bietet zum ersten Mal einen Überblick über das Schaffen der in Prag lebenden Schweizer Fotografin.
In der Arbeit «Libuna», im Jahr 2004 auch als Buch im Scalo Verlag (Zürich) publiziert, kommen die unterschiedlichen Facetten von Iren Stehlis fotografischer Sprache am deutlichsten zum Ausdruck – sie ist nahe bei der Reportage, aber doch mehr der inneren Stimmung und dem einfühlsamen Porträt als der sachlichen Information oder einer äusseren Handlung verpflichtet. Das dichte, dynamische Narrativ und die geschickt aufgebaute Dramaturgie lassen beinahe vergessen, dass diese Lebensgeschichte wesentlich von den stillen, in sich ruhenden Fotografien getragen wird: von Bildern, in denen die Räume selbst oder einzelne Objekte – ein Wandschmuck, am Boden liegende Wäsche, ein Tischtuch oder eine Zimmerpflanze –, zum Hauptthema werden. Iren Stehlis Sensibilität für die Poesie des Alltags sowie ihr starkes Interesse an minimalistischen Kompositionen bilden gewissermassen das ästhetische Gerüst, auf dem sie ihre visuellen Zustandsberichte aufbaut.
Auch in anderen Arbeiten der Fotografin spielen statische Aufnahmen und eigentliche Stillleben eine zentrale Rolle. Gerade in solchen Bildern kommt zum Ausdruck, wie sehr ihr Schaffen der Tradition der tschechischen Fotografie, allen voran Josef Sudek, verbunden ist. Stehlis Fotografien fordern dazu heraus, sich auf ihre besondere Zeichenhaftigkeit, die scheinbare Leere, die gestalterische Strenge und ihren spröden Realismus einzulassen. Bei näherer Betrachtung tun sich hinter der sichtbaren Oberfläche Abgründe auf, wird das Spurenlesen zu einer abenteuerlichen Entdeckungsreise, die eng mit den an- oder abwesenden Menschen verbunden ist. In Iren Stehlis Arbeiten überlagern sich ästhetisches Interesse und soziologische Recherche, die Freude an einer reduzierten Formensprache und die psychologisch gefärbte Milieustudie. Aber immer stehen die Menschen im Mittelpunkt, immer bleibt die Fotografin einer humanistischen Tradition verbunden, die vom Respekt für das Gegenüber geleitet ist. Selbst in der schonungslosen, nüchternen Beobachtung der Wirklichkeit schwingt aufrichtiges Interesse am Andern mit – subjektive Anteilnahme, unterlegt mit einem feinen Humor und einem Sinn fürs Absurde.
Die Ausstellung «So nah, so fern» macht deutlich, wie geradlinig und konsequent Iren Stehli seit den 1970er Jahren ihren Weg gegangen ist. Erst im Überblick wird sichtbar, dass die verschiedenen Werkgruppen eng miteinander verknüpft sind – ob es sich nun um erzählerische Projekte wie «Sláma, der Schneider», um konzeptuelle Serien über Strassen und Fassaden, um den «Czech Look» in Prager Schaufenstern oder um die lyrische Verdichtung alltäglicher Situationen handelt. Die Präsentation der Fotostiftung Schweiz lädt dazu ein, neben der exemplarischen Langzeitstudie «Libuna» noch andere, unbekannte Arbeiten von Iren Stehli zu entdecken. Zusammen genommen geben sie einen tiefen Einblick in die Gesellschaft und das Klima der Tschechoslowakei im Realsozialismus und in den Jahren der samtenen Revolution nach 1989. Sie rufen ein Kapitel der jüngeren Geschichte in Erinnerung, das noch sehr nah und zugleich schon unendlich fern scheint.