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Jules Decrauzat: Das Leben ein Sport

30.05.2015 - 11.10.2015

Eine Entdeckung: rund 1’250 Glasnegative aus der Zeit zwischen 1910 und 1925, die im Archiv der Schweizer Bildagentur Keystone dem Zahn der Zeit getrotzt haben. Die Qualität dieser Fotografien war bekannt, doch die Umstände ihrer Entstehung lagen weitgehend im Dunkeln. Erst dank gründlichen Recherchen kann nun ein neues Kapitel der Schweizer Fotogeschichte geschrieben werden: Der in Biel geborene Jules Decrauzat (1879–1960), aus dessen umfangreichem Werk die Glasnegative stammen, ist wohl der erste bedeutende Fotoreporter der Schweiz. Seine Momentaufnahmen aus dem Bereich des Sports oder der frühen Luftfahrt treffen den Nerv der Gesellschaft an der Schwelle zur Moderne.
Decrauzats Biografie lässt sich heute nur noch in groben Zügen rekonstruieren. Der mittlere Sohn von Jules Decrauzat Senior und Estelle Adèle Lambelet wird am 16. März 1879 in Biel geboren, wo er auch seine Jugend verbringt. 1895 zieht die Familie nach Genf. Jules studiert an der Ecole des Arts Industriels Bildhauerei. Mit dem Diplom in der Tasche begibt er sich 1897 nach Paris, wo er seinen Lebensunterhalt zunächst als Bildhauer verdient, daneben aber auch Abendkurse an der Ecole Pathé besucht. Hier entdeckt er die jungen Medien des Films und der Fotografie sowie das neue Metier des Fotojournalismus. Besonders in der Möglichkeit, unmittelbar, dynamisch und intuitiv auf das Geschehen der Welt zu reagieren, erkennt er ein in der Presse noch wenig genutztes Potenzial. Die meisten Fotografien, die zu dieser Zeit gedruckt werden, wirken statisch und gestellt und sind kaum geeignet, einen lebendigen Eindruck zu vermitteln. Jules Decrauzat strebt nach einer anderen Art von Fotografie: ihm schweben Momentaufnahmen vor, das Festhalten bewegter Szenen und sekundenschnelles Handeln, um die entscheidenden Augenblicke einzufangen.
Im Jahr 1899 gelingt dem jungen Reporter im Umfeld des sogenannten Dreyfus-Prozesses in Rennes ein Coup: Bei einem Attentat auf den Anwalt von Alfred Dreyfus erwischt er den Täter in voller Aktion. Das Bild wird von der Zeitschrift L’Illustration teuer eingekauft und bildet den Auftakt zu einer internationalen Karriere – so jedenfalls schildert Jules Decrauzat selbst sein fotojournalistisches Debut. Im Jahr 1900 wird er nach Südafrika geschickt, um über den Burenkrieg zu berichten. In den folgenden Jahren reist er zuerst nach Südamerika, danach ist er als Fotoreporter für französische Medien in Europa unterwegs.
1910 folgt Decrauzat einem Ruf der in Genf erscheinenden Illustrierten La Suisse Sportive, für die er bis 1925 arbeitet. Anschliessend übernimmt er diverse organisatorische Aufgaben – als Präsident der Nationalen Sportkommission des ACS oder ab 1927 als Mitglied des Organisationskomitees des Genfer Automobilsalons. 1929 bis 1931 trifft man ihn wieder im Journalismus, als Redaktor der Wochenzeitschrift La Patrie Suisse, wo von ihm zahlreiche Bilder und Artikel erscheinen. Allerdings rückt der Sport nun in den Hintergrund. Decrauzat berichtet von Veranstaltungen wie dem Winzerfest in Neuchâtel oder dem Blumencorso in Locarno. Er informiert über Kunst- und Literaturausstellungen und liefert Beiträge für die Rubrik Curiosités Photographiques.
In den vierziger und fünfziger Jahren erscheinen Artikel von Jules Decrauzat im Journal de Genève; sie befassen sich hauptsächlich mit Autofragen oder stellen Neuigkeiten von den Salons von Genf und Paris vor. "Oncle Jules", wie ihn die Genfer mittlerweile liebevoll nennen, erweist sich weiterhin als guter Beobachter und angenehmer Causeur. Seine besten Jahre sind allerdings definitiv vorbei. Am 29. Juni 1960 stirbt der "Pionier der Photo-Reportage und der Sportberichterstattung", wie die Neue Zürcher Zeitung meldet – danach gerät sein Werk in Vergessenheit.
Der grösste Teil des Fotoarchivs von Jules Decrauzat, das gemäss einigen Quellen rund 80'000 Glasnegative umfasste, ist bis heute verschollen – oder wurde vernichtet. Nur rund 1,5 Prozent scheinen überlebt zu haben, allerdings lange Zeit als anonymer Bestand, der über Umwege zur Bildagentur Keystone in Zürich gelangte. Dieses Glasplatten-Archiv deckt die Jahre 1910 bis 1925 ab und stammt aus Decrauzats Tätigkeit bei La Suisse Sportive. Die 14-täglich erscheinende Sportzeitschrift – die erste der Schweiz – reagiert auf das rasch wachsende Interesse am Thema Sport, indem sie der Fotografie einen hohen Stellenwert einräumt und mit Jules Decrauzat wohl auch den ersten festangestellten Fotoreporter der Schweiz in die Redaktion einbindet.
Decrauzats Wechsel von der politischen und gesellschaftlichen Berichterstattung zum Sport ist nachvollziehbar: Um 1910 gibt es kaum eine andere Domäne des öffentlichen Lebens, in welcher der Puls der Zeit besser zu spüren ist. Während sportliche Aktivitäten im 19. Jahrhundert hauptsächlich den privilegierten Kreisen vorbehalten sind, finden sie jetzt, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, immer mehr Anhänger in der breiten Bevölkerung. Nach englischem Vorbild werden auch auf dem Kontinent Veranstaltungen und Wettbewerbe organisiert, die dem Publikum Spektakel und Unterhaltung versprechen. Wer nicht selber Sport treiben kann, hat dank neuer Bildberichte in Zeitungen und Zeitschriften auch zu Hause die Möglichkeit, den Kampf um Sieg und Niederlage zu verfolgen oder die eigenen Helden zu küren. Die Sportpresse trägt wesentlich zur raschen Popularisierung des Sports bei; umgekehrt lassen Sportveranstaltungen und Champions die Auflagen in die Höhe schnellen. Die Zahlen sind eindrücklich: 1881 gibt es in Frankreich 21 Sportzeitungen und -zeitschriften, 1900 sind es bereits doppelt so viele. Im Jahr 1914 verkauft die französische Zeitschrift L’Auto, die das Thema Sport breit abdeckt, rund 40 Millionen Exemplare.
Es ist bezeichnend, dass der Begriff «Sport» zu dieser Zeit breit gefasst wird, als Ausdruck und Symbol einer modernen, zukunftsorientierten Lebensauffassung. Selbst das Fotografieren gehört dazu, der "Photo-Sport", dem sich immer mehr Amateure verschreiben, da jetzt erschwingliche und leicht zu bedienende Apparate zur Verfügung stehen. Neben körperbezogenen Sportarten wie Fussball, Tennis, Boxen, Leichtathletik und Gymnastik geniessen vor allem technische Sportarten wie Fliegen, Autofahren und Motorradrennen grosse Aufmerksamkeit. Die Maschine, die mit Treibstoff auf Hochtouren gebracht wird, ist dabei nichts anderes als die mechanische Erweiterung und Perfektionierung des kraftstrotzenden Körpers.
Das Leben ein Sport, lautet der Titel eines Fortsetzungsromans von Alfred Flückiger, der ab Januar 1930 in der Schweizer Illustrierten erscheint. Max, der Held dieser literarisch unbedarften Geschichte, hat beim Skilaufen eine Art Erleuchtung: "Durch den Sport hindurch offenbarte sich ihm das Leben [...]. Den Vorbereiteten, den Geübten, den Rastlosen, den Nimmermüden, den Starken, den Ausdauernden, den Jungen, den Sehnigen, den Flinken, den Fixen, den Gegenwärtigen, den Nichtreflektierenden, kurz: nur den ganz hingepfiffenen Kerlen gehört die Welt! Jawohl! Kreuzdonnerwetter! – Das Leben ein Sport!"
Der Titel von Flückigers «Sportnovelle» passt auch auf Jules Decrauzats Sportbilder: Tempo- rausch, Körperkult und ein neuer Lebensstil, von Decrauzat meisterhaft dargestellt, geben einen tiefen Einblick in die damalige Gesellschaft an der Schwelle zur Moderne – und in Themen, die uns auch heute noch beschäftigen.
In Zusammenarbeit mit Keystone, dem Echtzeit Verlag und dem PhotoforumPasquArt präsentiert die Fotostiftung Schweiz erstmals eine umfangreiche Auswahl von Vergrösserungen, die ab den digitalisierten Negativen von Jules Decrauzat hergestellt wurden. Der auf das Thema Sport fokussierte Bruchteil aus dem Archiv des Fotoreporters genügt, um zu erkennen, dass "Oncle Jules" ein Könner und Wegbereiter war. Einer, der nicht nur aufregende Einzelbilder schuf, sondern auch seiner eigenen Epoche ein fotografisches Denkmal setzte.

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