05.07.2012 - 27.01.2013
Der skeptische Blick der Schriftstellerin Grete Weil zieht den Betrachter in seinen Bann. Die Falten ihres Gesichts und die weißen Haare zeugen von einem bewegten Leben. „Die ‚Jüdischen Porträts’ berühren mich am meisten“, sagt Herlinde Koelbl heute über ihre Fotoserie aus den Jahren 1986 bis 1989. Seit Ende der 1970er Jahre fotografiert sie Menschen im Kontext sozialer, politischer und historischer Prozesse.
Die neue Ausstellung „Spurenlese. Fotografien von Herlinde Koelbl“ präsentiert vom 5. Juli 2012 bis 27. Januar 2013 über 400 Fotografien, dazu Interviews und Dokumentarfilme der renommierten deutschen Fotokünstlerin. Ihre Arbeiten reichen von Sozialstudien wie „Das deutsche Wohnzimmer“ und „Feine Leute“ über Serien von Männern und Frauen bis zur fotografischen Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte in „Jüdische Porträts“. „Rollenmuster, Image, Status und Macht sind Leitmotive der Arbeit von Herlinde Koelbl. In Ihren Fotos wird das Sein hinter dem Schein sichtbar“, erläutert Hans Walter Hütter, Präsident der Stiftung Haus der Geschichte.
„Was ist das Wesentliche des Menschseins, was treibt Menschen an? Fragen, die ich mir immer wieder stelle: Liebe, Gier, Hass, Glaube, Angst, Macht, Sexualität, Tod“ . Die Antworten auf diese Fragen lassen sich in ihren Fotografien erkennen. Ihre Werke sind eine Art von „Spurenlese“: Sie wählt Menschen nach bestimmten Kriterien aus, wie Herkunft, Geschlecht oder Beruf und bindet die Einzelporträts in Serien ein. So entstand z.B. die Langzeitstudie „Spuren der Macht“, in der sie Personen des öffentlichen Lebens fast über ein Jahrzehnt beobachtete. Koelbl ging der Frage nach, wie ein Amt den Menschen psychisch und physiognomisch verändert. Zusammen mit den begleitenden Interviews entstand ein Psychogramm der Macht und ein ungewöhnlicher Blick auf die deutsche Zeitgeschichte.
Ebenso entlarvend gelang ihr dies in der Fotoreportage „Feine Leute“ mit einem Blick auf die „High Society“. Von 1979 bis 1985 fotografierte Koelbl bei Filmbällen und Modenschauen, der Rennwoche in Baden-Baden und beim Neujahrsempfang in Bonn. Sie beobachtete die Menschen, ihre Körpersprache sowie die Rituale der so genannten besseren Gesellschaft.
Neben ihren Langzeitreportagen beschäftigten Herlinde Koelbl auch immer wieder soziale Rollenbilder: In ihrer Fotoserie über „Männer“ breitet sie − in zum Teil drastischen Fotos − ein weites Spektrum von Männlichkeit aus. Die Studie „Starke Frauen“ zeigt Aktfotos jenseits gängiger Schönheitsideale, Koelbl inszeniert die Vitalität und die Präsenz ihrer Modelle, die „eine archaische Kraft ausstrahlen“.
Einen anderen Schwerpunkt setzt Herlinde Koelbl bei ihren Fotografien „Das deutsche Wohnzimmer“ (1980) und „Das Schlafzimmer“ (2002). Die Fotografin initiiert darin einen visuellen Dialog zwischen Zimmern und ihren Bewohnern, die aus unterschiedlichen sozialen Milieus kommen. Sie zeigt Einblicke in eine Gesellschaft, in der Lebensstile zunehmend individualisiert sind. Die Bildgestaltung verzichtet auf dramatisierendes Licht und ausgefallene Bildausschnitte. Koelbl verwendet immer dieselbe Kamera und immer dasselbe Weitwinkelobjektiv. So werden die Unterschiede zwischen den porträtierten Personen der Serie deutlich. In ihrer jüngsten Produktion „Kleider machen Leute“ geht die Künstlerin der Frage nach, wie Uniformen und Berufskleidung den Eindruck des jeweiligen Gegenübers bestimmen.
Im Mittelpunkt aller Werke von Herlinde Koelbl steht immer die Suche nach dem, was den Menschen ausmacht. Ihre Aufnahmen entwerfen mit Offenheit und Tiefenschärfe ein facettenreiches und ungewöhnliches Porträt unserer Gesellschaft.