Die Bilder entstehen über einen zunächst ungesteuerten bildlichen Findungsprozess, der mit Kohle auf Leinwand ausgeführt wird. Zunächst existiert farblich vorgrundierte Leinwand, der warme oder kalte Farbe als Bildgrund und damit als Stimmung vorgibt. Im weiteren Prozess gibt es zwei Steuerungsmöglichkeiten:
1. den menschlichen Kopf oder die menschliche Büste als Vorstellung. Diese Vorstellung führt die Hand mit Kohle auf Leinwand aus, oder
2. die gänzliche Befreiung beim Zeichnen, d. h. Hand und Bewegung laufen frei, mit völlig offenem Resultat.
Nach diesem ersten Findungsakt beginnt der Prozess der eigentlichen Bildfindung in den Linien, vergleichbar mit den Bildassoziationen, die man hat, wenn man Holzmaserungen oder Wolken betrachtet und dort entsprechende Figurationen auffindet. Dies ist eine der künstlerischen Aufgaben, das Herausarbeiten dessen, was da ist, aber erst gefunden werden muss.
Damit setzt ein künstlerisch improvisatorischer und assoziativer Prozess ein. Die Linie der Zeichnung wird respektiert, der Malprozess umspielt die Linie oder überdeckt sie. Es ist ein Pendeln zwischen Malerei und Zeichnung, damit auch zwischen Gefundenem und Komposition. Im Prozess der malerischen Auseinandersetzung mit der Figur entwickelt diese eine Art Eigenleben. Diesen Aspekt versuche ich herauszuarbeiten bzw. teilweise auch zu bekämpfen.
Nicht immer gefällt mir, wie sich das Eigenleben meiner Figuren entwickelt. Die Bilder ermöglichen dem Betrachter ein Höchstmaß an Interpretationsvorlagen, wobei natürlich über Titelgebungen bestimmte Lesarten angeboten werden.
Warum menschliches Gesicht oder Brustbild? Sie zeigen Facetten menschlicher Gesichter oder Halbkörper, imaginierte Personen, die sich mitunter so verdichten, dass sie einen porträtähnlichen Zustand erreichen. Wobei das Interesse nicht das an der Wirklichkeit und an der konkreten Abbildung einer Person ist, sondern sie vermitteln eher Typisierungen von emotionalen Zuständen, Situationen und körpersprachlichem Gestus.
Facetten im Sinne der Bilder haben für mich grundlegend zwei Bedeutungsebenen:
1. Eine Mehr- und Vieldeutigkeit für den Betrachter, je nach Imaginationskraft und im Sinne der mannigfachen Lesbarkeit menschlichen Wesens, ganz im Unterschied zum Beispiel zum festgelegten Kanon biedermeierlicher Porträts oder der mit Hilfe von Attributen vorgenommenen Verweise traditioneller Porträtkunst.
2. Die unterschiedliche Wahrnehmung von Personen als Versinnbildlichung in der Darstellungsweise: Facettierung durch Linien und Farbgebung, das Aufbrechen plastischer Volumen in Flächen, die aufeinander stoßen und harte Kanten und Brüche erzeugen. Die anatomisch richtige Darstellung ist nicht von Interesse, ganz in der Tradition von Picasso und Braque.
Insgesamt geht es also nicht um konkrete Personen, sondern um die menschliche Figur als Anlass für Malerei. Insofern ist es auch abstrakte Malerei, die figürliche Assoziationen zulässt. Dadurch entstehen Wesen, die es in der Realität so nicht gibt, Mischwesen, die aufgesprengt sind, zwischen Tier und Mensch changierend oder etwa einen Menschen mit zwei Köpfen darstellend.
Unterstützend zur Physiognomie gewinnt die Gestik der Hände zunehmend an Gewicht und gibt Anlass zu weiterer Interpretation: Welche Aussage können Hände formulieren? Schwur oder Abwehr, Beteuerung oder Schutz, Nachdenken oder Aggression?
Text: Hannes Clauß