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Kunsthalle Göppingen


Marstallstraße 55
73033 Göppingen
Tel.: 07161 650 777
Homepage

Öffnungszeiten:

Di-Fr 13.00-19.00 Uhr
Sa, So 11.00-19.00 Uhr

Mémoire. Erinnern

13.10.2013 - 08.12.2013

Werke von sechs Künstlern zeigt die neue Ausstellung der Kunsthalle Göppingen. Sie präsentiert einen besonderen Teil der lebendigen Kunstproduktion in Frankreich. Jean-Luc Brignola, Jean-Marc Cerino, Olivier Dutel, Thierry Gruas, Éric Manigaud und Gaëlle Vicherd leben und arbeiten in Saint-Étienne. Obwohl ihre Arbeiten technisch und ästhetisch ganz verschieden sind, verbindet sie das Interesse, mit Bildern die Frage nach dem Erinnern zu stellen, dem Gedächtnis der Mémoire. Denn jedes Bild, sei es ein Gemälde, eine Bleistift-Zeichnung, ein Video oder eine Installation, ist ein Modell der Wahrnehmung und spiegelt persönliche wie gesellschaftliche Erinnerungen wieder. Es verhandelt das Spannungsfeld zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Künstler sind die Erforscher der Bilder, und das Ergebnis sind neue, andere Bilder, manchmal ganze Bilder-Reihen oder auch nur ein einzelnes Dokument, das mit der bildnerischen Verwandlung an Bedeutung gewinnt. Wenn Künstler malen, filmen, fotografieren und sammeln, dann sind ihre Werke stets Antworten auf andere Bilder, die sie anderswo, in Archiven oder auf Flohmärkten, in der Geschichte oder in der Kunst, finden. Mit der Gegenwärtigkeit der Kunstwerke verwandeln sich somit jene Bilder, die wir selbst in uns tragen. Plötzlich sind andere Bildergeschichten zu entdecken, und mit den Bildern über Bilder, den Kunstwerken, die auf den Bildervorrat spekulieren, eine Auswahl treffen oder das Bewahrte in Frage stellen, setzt eine besondere Spurenlese ein.
Die Ausstellung gibt einen profunden Einblick in das zeitgenössische Kunstschaffen in Saint-Étienne. Sie zeigt Kunstwerke, in denen sich jene Debatte in der Kunst spiegelt, in der es über das persönliche Erleben hinaus um die Rolle von Bildern im kulturellen Gedächtnis geht. Neben den ikonographischen Motiven, dem Erfahrungsschatz, vermittelt sie die Faszination, mit welchen künstlerischen Mitteln Bilder eine überraschende, auf das Wesen des künstlerischen Bildes gerichtete Gegenwart gewinnen können. Dem Erstaunen über diese Bilder über Bilder gehen alle sechs Künstler auf ihre eigene Weise nach.
Bevor Jean-Luc Brignola malt, photographiert er entlang der ältesten Bahnstrecke Frankreichs aus dem Zugfenster den Landstrich zwischen Lyon und Saint-Étienne. Diese Blicke auf die Industrie- und Gleislandschaft, auf Siedlungen und Bruchstücke der Natur, sind von der Dynamik der Bewegung geprägt. Alles ist in Veränderung, und die Erfahrung von Zeit und Raum ist geprägt von der Unschärfe des schnellen Sehens. Die Malerei reproduziert dabei keineswegs die Photographie. Sie erinnert das Brüchige und ruft das Prozesshafte herauf, wobei sich das gemalte Bild aus vielfachen Augenblicken zusammensetzt. Es ist sozusagen eine Konstruktion aus der Sammlung des Archivs des Künstlers. Die Malerei reflektiert das innere Bild, sie funktioniert wie das Gedächtnis, indem sie eine Wahrnehmungssequenz, die kein Kalkül kennt, künstlerisch umsetzt und in eine Synthese aus vielen Aspekten des subjektiv Gesehenen übersetzt.
Jean-Marc Cerino geht von anonymen Photographien aus, die er in Archiven findet. In feiner, differenzierter Malerei kehren Motive in vergrößertem Format wieder. Gemalt auf und unter Glas verwandelt der Schwarz-Weiß-Kontrast seiner Malerei das historisch dokumentarische Bild in ein gegenwärtiges Kunstwerk. Zwar sind das Motiv und der Ausschnitt der historischen Photographie unverändert wiedergegeben, doch interpretiert Cerino diese mit seiner Aneignung, die eine nahezu informelle künstlerische Intensität hat. Seine Malerei erschließt durch Schichtung und Materialität das Bild aus der Geschichte unter der Prämisse der Sensibilität seines Vorstellungsvermögens. Je nach Ansicht kann der Lichteinfall kippen, von hell zu dunkel, von positiv zu negativ, was die Stimmung zum Thema macht. Cerinos Motive sind teils kurios und haben plastische Besonderheit, wenn Trichter zum Hören von Flugzeugen gezeigt werden oder Gegenständliches sich in Strukturen auflöst.
Olivier Dutel arbeitet im Medium des Filmes. Seine künstlerische Form ist die Abfolge von Bildern, auch gefundenen, wie den Negativen aus den 1940er Jahren über die Geislinger Steige. Er reiht diese in eine Sequenz von Stills, woraus sich das Bildgeschehen eines imaginären Films ergibt. Erinnerung verläuft bei Dutel diskontinuierlich und sprunghaft. Seine Installation setzt sich aus Dias und Photokopien, die verschiedene Streckenabschnitte des Albaufstieg zeigen, sowie diversen anderen Objekten zusammen. Sie vermittelt die Distanz des Gedächtnisses gegenüber dem in der Bildfolge festgehaltenen Erleben: der historische Abstand kontrastiert mit der Technik der Überblendung. Mit den Bildern wird somit das Mysterium der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sichtbar. In dieser Konstellation eröffnen sie in der Erinnerung, im Vorstellungsvermögen einen Assoziationsraum des Dazwischen.
Thierry Gruas findet seine Erinnerung in Familienalben. Allerding ist sein Erinnern an Kindheitsmomente überdeckt von den Klischees, deren stereotype Vereinfachung aus den individuellen Erinnerungsmomenten ein austauschbares kollektives Gedächtnis macht. Die Leinwände seiner Malerei geben Dinge und Menschen zu sehen, die eher anonym und befremdlich wirken. Sie stehen für Mythen einer bestimmten Zeit, wie die Pyramiden für den Urlaub in ferne Länder. Die Ausdruckskraft und sinnliche Dynamik von Gruas‘ Malerei vermittelt eine emotionale Stimmung, die den Bezug zur Gegenwärtigkeit der Motive herstellt, indem sie die Betrachter in eine Erzählung hineinzieht. Gruas‘ künstlerischen Bilder zwingen darin zu einem erneuten Finden von Fragmenten, auch der eigenen Identität. Sie geben keine Antwort auf die Frage, inwieweit Bilder der Erinnerung zu einer Konstruktion des Ich einen Beitrag leisten.
Éric Manigaud vermittelt mit seinen hier erstmals ausgestellten Bleistift- und Graphitzeichnung gespenstische Ruinenlandschaften. Sie zeigen durch die Bomben des Zweiten Weltkrieges zerstörte Städte, so Stuttgart im Jahr 1945. Zwar stellt die Zeichnung präzise die Photographie der zerstörten Stadt dar. Doch ist es genau diese Katastrophe der Zerstörung, die sich in seinen Bildern fortsetzt, in denen sich scheinbar alles auflöst. Sie ist für die Wahrnehmung aus heutiger Sicht unerreichbar, bei aller dokumentierten Erinnerung oder Versuchen der Rekonstruktion. Die Perspektive des einzelnen Bildes, ebenso der historische Abstand zum Inhalt des Bildes, bewirken eine Abstraktion. Zugleich resultiert aus der einnehmenden Vergrößerung eine irritierende Unschärfe von objektiver Präzision. Was historische Aufnahmen für die Erinnerung unmittelbar dokumentieren, verwandelt sich bei Manigaud zu einer Projektionsfläche, zu einer abstrakten Stadtlandschaft jenseits aller Dinglichkeit, in denen sich sogar die Linien im Graphitstaub pulverisieren. Die Melancholie dieser Bilder über Bilder behält damit den rätselhaften Charakter.
Gaëlle Vicherd bezeichnet ihre Videobilder als Interfaces zwischen ihrer Wahrnehmung und der Wirklichkeit, die sich dahinter vermuten lässt. Das Unbestimmte, jenseits des Sichtbaren, steht in allen drei Filmen, die sie in der Ausstellung zeigt, im Fokus. So treten die beiden Schauspielerinnen mit ihren Textbüchern aus dem Dunkel des Studios kaum hervor. In Scènes (2009) geht es um eine Aufführung, die sich nur in dem Dialog mit und über den Text andeutet. Die Schwelle, den latenten Zustand einer Inszenierung, greift die Künstlerin auch in den Tierbildern auf. In Orée (2013) greift Vicherd auf Dokumentationen und museale Inszenierungen zurück, deren Ziel es ist, im Bild möglichst viel zu zeigen und zu erklären, um diese Sichtbarkeit zu hinterfragen und den Blick für das nur Angedeutete zu öffnen. Nicht der Bildgegenstand ist das Motiv, sondern das Geheimnis der Bilder, der Raum hinter dem Sichtbaren, der sich dem Erinnern auch als Konstruktion erschließt.

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