›reiß dein Maul auf‹. Groß, fast sehr groß steht der Imperativ vor einem. Direkt auf die Wand geschrieben, unzweideutig an mich als Gegenüber gerichtet. Das Ganze nicht auf einer Brandmauer, auf einem Container, überhaupt nicht im öffentlichen Raum, nicht illegal gesprayt oder gepinselt, weder umgeben von der ungemütlichen Stille eines verdreckten Hinterhofs, noch vom Lärm vorbeirauschender Autos oder Züge. Christine Lederer schreibt den Aufruf auf eine Wand im Kunstverein Friedrichshafen, also in einen Raum, der seinen Besucher normalerweise mit kontemplativer Ruhe empfängt, um ihn auf die Begegnung mit Kunst zu konzentrieren. ›reiß dein Maul auf‹ – wesentlich expliziter geht es nicht. Und doch wirkt dieser Imperativ bemerkenswert fragil wie die meisten Werke von Christine Lederer, die einen mit dem Paradoxon einer subtilen Unmittelbarkeit konfrontieren und in den Zwiespalt zwischen direktem Handeln und doch erst nochmal nachdenken verwickeln. So schreibt Lederer den Imperativ mit graubrauner Asche und mit keinesfalls aggressiver, sondern eher weich fließender Handschrift auf die weiße Wand. Asche – als Rückstand einer Verbrennung – setzt voraus, dass Lederer etwas Früheres verbrannt haben muss, um Material zu gewinnen für ihren Aufruf ins Jetzt. Auch diese Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist typisch für Lederers Tun. Sie arbeitet mit Materialien, mit Bildern, mit Worten, arbeitet im Raum, auf der Wand oder auf Papier, greift dabei häufig auf ‚originale‘ Fundstücke aus ihrem unmittelbaren familiären wie örtlichen Umfeld zurück, nutzt die den Dingen eingeschriebenen Erinnerungen ohne je nostalgisch zu werden. Lederer hinterfragt ihre ganz persönlichen Bedingtheiten, ohne uns die Chance einer voyeuristischen Distanz einzuräumen. Vielmehr konfrontieren ihre Werke den Besucher mit der beständigen Frage wie Gestern Morgen werden kann. Sie verwickelt ihn in die vergänglichen Spuren der Dinge, eines Denkens oder Lebens, das auch seins sein könnte. Lederer gelingt es, den Dingen, Bildern und Worten eine Offenheit einzuschreiben, die ständig zwischen Fragilität und Brutalität oszilliert, ohne je beliebig zu werden. Sie bezieht Stellung, ohne dabei normativ zu werden und fordert eben das auch vom Gegenüber. ›reiß dein Maul auf‹ sagt eben nicht was es zu fordern, zu schreien gilt, sondern insistiert nur darauf, dass man sich bemerkbar machen soll. (JvdB)