Die Soundwelten der US-amerikanischen Musikerin Holly Herndon bestehen aus Klangfragmenten des Alltags wie Skype-Konversationen, Tastatur-Geräuschen oder subtilen und übersteigerten Körper-Bewegungen. Herndon beschäftigt sich dabei mit Themen wie Überwachung, digitalem Aktivismus und Gesellschaftstheorien. Ihre Arbeiten entstehen oft in Zusammenarbeit mit künstlerischen VordenkerInnen wie den holländischen Designern Metahaven, der ASMR-Künstlerin Claire Tolan, dem Theoretiker Suhail Malik und dem Medienkünstler Mathew Dryhurst. everywhere and nowhere ist die neuste Arbeit von Herndon, die in Zusammenarbeit mit Dryhurst für den Klangdom des ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe entstanden ist und im Kunstverein in Hamburg Premiere feiert. Die 23.2-Kanal Soundinstallation zeigt in Kombination mit Videoarbeiten den aktuellen Schwerpunkt ihrer künstlerischen Praxis. Beide Künstler nutzen in ihren Soundarbeiten das Internet als Ressource und sampeln mit selbstprogrammierter Software ihre digitalen Umgebungen. Die Assemblagen, komponiert aus vertrauten Klängen, stellen Zusammenhänge zwischen unseren realen und virtuellen Erfahrungen her und erforschen das unerschlossene emotionale Potenzial eines neuen, gemeinschaftlichen Spektrums.
Für everywhere and nowhere wurden Performer und Requisiten in einem physischen Raum zusammengeführt, um die endlosen Möglichkeiten der digitalen Assemblage in ein lebendiges, gemeinsam erfahrbares Szenario zu übersetzen: Jone San Martin (The Forsythe Company), Tänzerin und Choreographin, der Jiu Jitsu-Kämpfer Sam Forsythe und der Künstler Brian Rogers wurden angeleitet, eine Reihe improvisierter Interaktionen auszuführen und sich durch eine inszenierte Umgebung aus brüchigem Porzellan, Seilen und Plastikplanen zu bewegen. Ihre Handlungen werden von drei jungen Künstlern flüsternd kommentiert, die Herndon und Dryhurst während eines Auftritts bei einem anti-faschistischen Musikfestival im tschechischen Böhmerwald kennengelernt haben. Im Tonfall von Online-Intimität versuchen sie neue Mitstreiter für eine im Entstehen begriffene Widerstandsbewegung zu gewinnen. Inspiriert von Peter Watkins’ politischem Action-Kino sind diese Experimente als utopische Vorstöße zu begreifen, Brücken zwischen privater digitaler Gestaltung und Experimenten in einem gemeinschaftlich geteilten Raum zu bauen. Jeder Klang wird ohne Begrenzung konzipiert und entspringt einer Interaktion.
Holly Herndon wurde in Tennessee, USA, geboren und war Teil der Berliner Minimal Technoszene, bevor sie als Stanford-Doktorandin nach San Francisco an das Center for Computer Research in Music and Acoustics ging. Hier entwickelte in den 1960er Jahren John Chowning den Algorithmus für die FM-Synthese, bereitete damit den Weg für Synthesizer wie Yamahas DX7 und revolutioniert die Musikindustrie, indem er Techniken zugänglich machte und die Grenzen teurer, analoger Hardware durchbrach. Herndons musikalischer Ansatz bewegt sich in dieser Tradition und folgt demokratisierenden Absichten. Sie lässt die Frage nach den politics of paradise, ein Begriff des britischen Ökonoms Guy Standian, oszillieren zwischen virtuellem und realem Raum. Vor kurzem veröffentlichte Herndon ihr zweites Album Platform auf dem Label RVNG Intl. / 4AD. Sie tritt weltweit auf und präsentierte kürzlich Arbeiten im Palais de Tokyo in Paris und im Guggenheim Museum New York.
Mathew Dryhurst arbeitet als Künstler in Los Angeles und Berlin. Er entwickelte das Online-Tool Saga, das KünstlerInnen den Besitz der Plätze ermöglicht, auf denen ihre Arbeiten online gehostet werden. Sein Audiostück MUSTER basiert auf den Userdaten der Radiohörer und hatte kürzlich Premiere auf Deutschlandradio Kultur. Er kooperiert regelmäßig mit Holly Herndon und ist Mitbetreiber des Berliner Labels PAN.