Herrschaft war in Mittelalter und früher Neuzeit ganz wesentlich dynastisch, also über die Zugehörigkeit zu einem Fürstenhaus, organisiert. Daher waren die Verwandtschaftsverhältnisse eines Individuums entscheidend für seine Machtchancen, und deshalb stellte die Genealogie, also die Lehre und Aufzeichnung von Verwandtschaft und Abstammung, ein zentrales, politisch bedeutsames Wissensgebiet dar. Es brachte eine unübersehbare Menge an einschlägigen Schriften hervor, von denen die Herzog August Bibliothek als Überlieferungsort fürstlicher Sammlungen einen außerordentlich umfangreichen Bestand verwahrt. Er macht es möglich, dass die Ausstellung Wurzel, Stamm, Krone. Fürstliche Genealogie in frühneuzeitlichen Druckwerken – mit Ausnahme einer Leihgabe aus dem Staatsarchiv Wolfenbüttel – ausschließlich mit eigenen Exemplaren bestückt ist.
Die Ausstellung präsentiert den gesamten Reichtum der genealogischen Literatur vornehmlich im deutschen Sprachraum. Sie konzentriert sich dabei auf die Fragestellung, mit welchen Darstellungsmitteln die Verwandtschaftsbeziehungen in und zwischen den Fürstenhäusern vermittelt wurden. In der Regel geschah dies nicht einfach in Textform, sondern durch den zusätzlichen Einsatz von Bildern und graphischen Schemata. Es ist auffällig, dass dabei sehr häufig auf das Grundmuster des Baumes zurückgegriffen wurde. Dabei ist natürlich an den Stammbaum zu denken, aber auch an weitere Darstellungsweisen, die auf diesem pflanzlichen Modell beruhten.
In Teil I der Ausstellung, der die Augusteerhalle einnimmt, ist die große Vielfalt dieser Veranschaulichungsmittel zu sehen. Es werden Stammbäume, Stammtafeln, Ahnentafeln und Ahnenbäume sowie verschiedene exotische Baumarten (z.B. Zeder und Palme) aus Drucken des 15. bis 18. Jahrhunderts gezeigt, die ihre genealogischen Inhalte jeweils auf eine bestimmte Art und Weise ordnen und präsentieren. In diesem Zusammenhang spielt natürlich auch die symbolische Bedeutung des Baumes, etwa in der Bibel, eine wichtige Rolle.
In Teil II, dem die Schatzkammer gewidmet ist, wird deutlich, dass das Baummodell schon in den mittelalterlichen Handschriften verwendet wurde, wenn es um die Darstellung von Verwandtschaft ging. Dies zeigen schon die in diesem Bereich gebräuchlichen Bezeichnungen, etwa „arbor consanguinitatis“ (deutsch: Verwandtschaftsbaum) oder „Wurzel Jesse“ für die Abstammung Jesu. Die hier ausgestellten Stücke, unter ihnen der Liber Floridus, der Sachsenspiegel und das Evangeliar Heinrichs des Löwen, gehören zu den kostbarsten Handschriften der Herzog August Bibliothek.
In Teil III, dem das Kabinett vorbehalten ist, wird die ganze Bandbreite der unterschiedlichen Verwendungsweisen genealogischen Wissens vorgestellt. Es konnte sowohl der Selbstdarstellung der Fürstenhäuser dienen als auch der staatenkundlichen Aufklärung und damit der Herrschaftskritik. Der praktische Gebrauch genealogischer Literatur hing natürlich auch mit dem Format der entsprechenden Schriften zusammen, und daher wird hier auch eine 5,70 m lange Stammtafel zu betrachten sein.
Die Ausstellung macht deutlich, dass die Genealogie der frühen Neuzeit – anders als heutzutage – mehr war als ein privates Hobby. Sie wurde als politisches Instrument eingesetzt, um spezifische Herrschaftsansprüche der Fürstenhäuser zu formulieren und zu untermauern, und wurde daher von Gelehrten im Dienste der einzelnen Höfe betrieben. Eine allmähliche Loslösung von höfischen Einflüssen gelang ihr ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Dazu trug eine Untergattung genealogischer Schriften bei, deren Ziel darin bestand, den Zeitungslesern aktuelle Kenntnisse zu vermitteln und sie damit in den Stand zu versetzen, dem politischen Geschehen zu folgen. Die Genealogie machte also im Verlaufe der frühen Neuzeit eine Entwicklung durch, in deren Verlauf sie sich vom Werkzeug fürstlicher Interessen zum Informationsmittel der Untertanen wandelte.
Doch wurde die Auswahl der Exponate auch unter dem Aspekt vorgenommen, möglichst repräsentative, schöne und aussagekräftige Handschriften und Drucke zusammenzuführen. Insofern macht die Ausstellung auch den ästhetischen Reiz einer 1.000 Jahre überspannenden Buchkunst, Schriftkultur und Bildlichkeit erfahrbar.