17.07.2009 - 01.11.2009
„Menschen sind unberechenbar“, hat Herlinde Koelbl einmal auf die Frage geantwortet, warum sie eigentlich keine Berge oder Landschaften fotografiere. Vielleicht lässt sich aus diesem Satz schon erkennen, was die Arbeit dieser großen deutschen Fotokünstlerin so besonders macht: Sie will Menschen begreifen, verstehen, etwas darüber erfahren, wie sie leben, womit sie sich umgeben, wo der Schein steckt und wo das Sein, was sie empor reißt und niederschmettert. Ihre Bilder sind intensive Erlebnisse, weil sie aus einem wirklichen Interesse und einer Neugier für das Gegenüber entstehen und der Respekt vor dem Leben der Anderen immer spürbar bleibt. In dieser Fotografie wird niemand bloß gestellt, aber er wird hartnäckig und fordernd befragt. Das gilt für Gerhard Schröder genauso wie für ein Ehepaar in ihrem Wohnzimmer.
Herlinde Koelbl schreibt seit nunmehr über dreißig Jahren an einem großen Roman unserer Epoche. Kapitel um Kapitel fügt sie hinzu, und es scheint, als seien all ihre Projekte Teile einer Kette. Zum ersten Mal ist nun im Berliner Martin-Gropius-Bau eine Ausstellung zu sehen, die die Arbeit von Herlinde Koelbl in ihrer ganzen Breite zeigt. Bislang kannte man ihr Werk allenfalls ausschnitthaft. Neben Ikonen der Porträtfotografie wird es auch viel Überraschendes und Experimentelles geben.
Eigentlich ist sie durch einen Zufall zur Fotografie gekommen. 1976 schenkt ihr ein Freund vier Filme, mit denen sie ihre Kinder beim Spielen fotografiert. Sie merkt sehr schnell: Das ist ihr Medium. Zeit, um über Vorbilder nachzudenken, nimmt sie sich nicht. Sie möchte nicht gefangen sein in einem Stil, sondern schnell zur eigenen Handschrift gelangen. Schritt für Schritt rüstet sie technisch auf, weiß aber von Anbeginn, was sie besonders interessieren wird: Lebens- und Verhaltensmuster. Wenig später erscheint ihre erste Farbreportage über bayerische Märkte im stern.
1980 blickt sie fast ethnologisch in die gute Stube der Deutschen, das Wohnzimmer, „in das man die Welt hineinbittet, um ihr zu zeigen, was man hat“.
Wer die Idee anfänglich für banal hält, wird bald mit Aufnahmen konfrontiert, die viel über Menschen in Räume erzählen, die ihre Wohnzimmer oft genug für andere ein-gerichtet haben, als Statussymbole, als Kulissen des Aufstiegs und Chiffren der Zugehörigkeit. Fast ein Pendant dazu ist ihre „photographische Reise durch Schlafzimmer“, die später entsteht und sie rund um den Globus führen wird. Auch diese Blicke in die intimsten Winkel sind weder voyeuristisch noch belustigend, sondern von einer Gabe des unverkrampften Schilderns. Herlinde Koelbl erfasst wie nur wenige andere Fotografen die Persönlichkeit eines Menschen, weil sie nach den Spuren im Umfeld, im Alltag, natürlich auch an und in den Porträtierten sucht. Und wenn das Objektiv dann doch nicht reicht, greift sie zum Tonband oder zur Filmkamera, um für sich die einzig nur gültige Frage zu beantworten: Wer ist das? Auf grandiose Weise gelingt ihr das in den „Jüdischen Portraits“, an denen sie fünf Jahre lang arbeitet. Lange vor Steven Spielberg erzählt sie die Geschichte der Überlebenden des Holocaust: der Jüngste ist 70, der Älteste 94. „Diese Serie ist ein Markstein für mein persönliches Leben. In den Gesichtern habe ich soviel Spuren von einem schwierigen Leben entdeckt, soviel Traurigkeit, aber auch soviel Weisheit und Bescheidenheit“, sagt Herlinde Koelbl. Bei ihren Gesprächen erfährt sie von den furchtbaren Schicksalen, erlebt aber bei Erika Landau oder Norbert Elias, bei Josef Tal oder George Tabori, was es heißt, ohne Verbitterung und ohne Hass zu leben. „Hass“, sagt Erika Landau, „zerstört einen selbst. Er wirkt wie ein Bumerang“. Dankbar wird sie sein für diese Begegnungen, die ihr einiges abverlangen. Mit Bruno Kreisky und Josef Tal wird sie Freundschaft schließen, weil sich dem ersten Gespräch viele, viele weitere anschließen. Glücksmomente ihres Berufes.
Die erste Überblicksausstellung in Deutschland wird versuchen, das Phänomen Herlinde Koelbl näher zu beleuchten. Das geht nicht chronologisch, sondern nur thematisch. Wer mit ihr über Themen wie Behausungen, Einsamkeit, Arbeit oder Gewalt spricht, merkt schnell, dass sie eigentlich eine Konzeptkünstlerin im besten Sinne ist. Was sie an Mitteln braucht, um ihre Aussage zu untermauern, das nimmt sie sich. Und sie wagt ständig Neues, probiert sich aus, testet Ideen auf Praktikabilität. Fast unbekannt sind ihre abstrakten Arbeiten, die die Spuren der Vergänglichkeit betonen – Risse in einer Straßendecke oder Stücke von verkohltem Holz mit faszinierenden Mustern. Spuren von der Schönheit der Dinge, die immer wieder in ihrem Werk auftauchen. „Mein Denken“, sagt sie, „war immer vorausschauend, dafür habe ich mir meine eigenen Maßstäbe gesetzt, mir erlaubt, Dinge anders zu denken. Wenn ein Künstler danach schielt, wie etwas ankommt, dann ist er schon verloren.
Diese Freiheit des Denkens, die Freiheit für meine Arbeit war und ist mir ganz entscheidend wichtig.“ Wenn sie von Verlagen hört, es müsse sich doch rechnen, stachelt sie das erst recht an.
Auch bei den „Spuren der Macht“ war das so, der vielleicht wichtigsten Langzeitstudie über die Eliten der Bundesrepublik Deutschland. Gerade weil sie in ihren „Sitzungen“ nicht danach unterscheidet, wer gesellschaftlich wichtig und unwichtig ist, weil sie in ihrem Gegenüber erst einmal den Mensch sieht, ist sie fünfzehn Persönlichkeiten dieses Landes besonders nahe gekommen, darunter Angela Merkel, Gerhard Schröder und Frank Schirrmacher. Nahe wie niemand vor ihr. Und wahrscheinlich auch keiner nach ihr. Acht Jahre lang stellte sie die Frage, wie das Amt den Menschen verändert, wie und ob sich die Persönlichkeit verformt, wo Sucht beginnt und Entzug einsetzt. Besonders gut und eindringlich gelingt das beim grünen Vorkämpfer und späteren Außenminister Joschka Fischer. Herlinde Koelbl erlebt die Häutungen dieses Politikers, spürt, wie er sich ständig neu erfindet, um seiner Rolle gewachsen zu sein und wird Zeugin von ehrlichen Geständnissen über die von ihm befeuerten Zerwürfnisse in seinem Privatleben. Nie hat man Fischer authentischer gesehen als bei Koelbl. Wahrscheinlich würde er heute keine Interviews mehr geben, in denen er über seine Ängste, sein Versagen, sein Unvermögen und seine Frauen spricht. Man sieht schon in der veränderten Körperhaltung, wie sich der Panzer um Fischer wieder schließt und die staatsmännische Geste wichtiger wird, als die offene Aussage. Über acht Jahre lang beschäftigt sich Herlinde Koelbl intensiv mit den Mächtigen, sammelt, was die Zeitungen über sie schreiben. „Ich habe viel über Machtstrukturen begriffen, über Gewinn und Nachteil, Bestätigungen fürs Ego und was dazu gehört, an der Spitze zu bleiben“, sagt sie. „Spuren der Macht“ ist ein faszinierender Versuch, immer wieder zu überprüfen, wie der gewohnte Machtanspruch ins Eigene greift. Herlinde Koelbl gelingt das mit Nähe und Distanz. Über dreißig Jahre befindet sich Herlinde Koelbl nun schon auf einer fotografischen Reise, und das ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn global hat sie schon immer gedacht. Nun macht sie Station in Berlin, hat ihr Archiv durchforstet und nach Arbeiten gesucht, die über den Tag hinausweisen. Viele sind darunter, sehr viele, die Gültigkeit besitzen, die sich auch eingebrannt haben in das kollektive Gedächtnis, andere wieder sind Momentaufnahmen, die aber viel über die tieferen Dinge des Lebens sagen, die der Fotokünstlerin so wichtig sind. „Ich interessiere mich für Menschen. Aber es muss weitergehen als unter die Oberfläche. Das ist das ganze Geheimnis.“ Und das künstlerische Credo der Herlinde Koelbl.
Ingolf Kern