Wie kaum ein anderer Fotograf hat Michael Ruetz sich in den letzten Jahrzehnten mit den Bedingungen, den besonderen Qualitäten und Vor-zügen serieller Fotografie beschäftigt. Seine 'Timescapes' führen dies exemplarisch und streng vor. Ruetz dokumentierte jahrelang an 600 über Deutschland verteilten immer gleichen Orten die immer gleichen Gegenstände, Plätze, Straßen, Architektur und Landschaften, die sich – natürlich – immer neu präsentierten. Ausgangspunkt war die Vorgabe, dass die Kamera mit immer gleichem Blickwinkel auf den ausgewählten Bildge-genstand ausgerichtet wurde. Die Orte und die Blickrichtung wurden mit geografischen Koordinaten festgelegt, jede Aufnahme wurde in ihren Entstehungsbedingungen genau dokumentiert.
Bekannt sind die unter dem Titel 'Eye on Time' publizierten und im Deutschen Historischen Museum ausgestellten Fotografien Berliner und Brandenburger Ansichten. Scheint in einigen wenigen Serien die Zeit scheinbar still zu stehen, verwandeln sich vor allem prominente Schauplätze in den Jahren 1990 bis 2007 dramatisch. So bietet eine Serie zunächst ei-nen freien Blick über einen weiten Parkplatz hin zum Außenministerium der DDR, das dann verstellt, verhüllt und abgerissen wird; es weitet sich die Sicht auf die Friedrichswerdersche Kirche, ein neues Außenministeri-um taucht am Bildrand auf, die Attrappe der Bauakademie entsteht, und schließlich wird das ganze Sichtfeld von Jahrmarktsbuden verstellt. So selbstverständlich wie radikal diese Veränderungen im Rückblick erscheinen mögen, so bedarf es doch der Fotografie, um das ganze Ausmaß des Wandels schlagend dokumentieren zu können. Da Architektur gemeinhin als besonders langlebig eingeschätzt wird, ist ihr Werden und Vergehen immer wieder bevorzugtes Arbeitsfeld der Fotografie gewesen. Doch ist sie in den Serien von Michael Ruetz letztlich nur ein Vorwand, um die Zeit zu fassen, in der sich diese Veränderungen vollziehen.
Die im Museum für Fotografie präsentierte Serie 'Timescape 817' eröffnet den Blick auf eine voralpine Landschaft, die nahezu das gesamte Repertoire einer von Menschen domestizierten und dennoch frei erscheinenden Natur umfasst. Zwischen Gehölzen und Obstbäumen, Wiesen und Feldern ziehen sich ein Bach, Feldwege und Straßen, einzelne Gehöfte, kleine Siedlungen, Dörfer sind zu entdecken. Nach links wird die Landschaft durch eine Hügelkette zum Horizont abgeschlossen, nach rechts staffeln sich mehrere Bergketten hintereinander. Darüber spannt sich ein weiter Himmel, dessen vielfältige Erscheinungsformen die Wahrnehmung herausfordern. Majestätische Wolkenformationen, stille Mondaufgänge, dramatische Blitzgewitter, fahle Schneestürme und lange Sonnenfinsternisse sind zu sehen. Die oftmals langen Belichtungszeiten lassen die Wanderung des Mondes als breite Lichtbahn erscheinen, Blitze schlagen in großer Zahl ein, die Raketen eines Neujahrsfeuerwerks schießen hundertfach in den Himmel.
Aus 2720 in einem Vierteljahrhundert entstandenen Aufnahmen wurden für die Ausstellung gut 60 Bilder ausgewählt Die Strenge des nahezu wissenschaftlich zu nennenden Zugriffs wird dabei gebrochen durch den letztlich notwendig subjektiven Ansatz des Fotografen bei der Bestimmung des Aufnahmemoments, bei der Auswahl der Fotografien für die Ausstellung. Die hier ins große Format gebrachten Bilder ermöglichen nicht nur die genaue Untersuchung von Details, sondern erlauben es auch – bei näherem Herantreten – nahezu physisch in die Panoramen einzutauchen.
Serielle Ansätze stehen in der Fotografie wie in der bildenden Kunst oft an der Schnittstelle zur Wissenschaft. Eadweard Muybridges Bilderserien aus den 1870er Jahren zerlegten die Bewegungen von Menschen und Tieren in Einzelsequenzen, so dass Abläufe auch für das menschliche Auge sichtbar wurden. Diese analytische Herangehensweise steht in ideeller Korrespondenz zu Claude Monets Serien, etwa seinen Ansichten der Kathedrale von Rouen oder von Getreideschobern. Monet kam es darauf an, der Vielzahl an Sinneseindrücken ein adäquates Bildprogramm entgegenzustellen. Die methodische Strenge seiner Serien diente dazu, flüchtigste Erscheinungen, nämlich Licht und Atmosphäre, in ihrer Essenz zu erfassen.
Monet reagierte damit auf die Fotografie, deren wesentliches Merkmal die Fähigkeit ist, Zeit darzustellen. Bereits eine der ersten Aufnahmen von Louis Daguerre, einem der Erfinder der Fotografie, hatte dies eindrücklich demonstriert. Sein Bild vom Pariser Boulevard des Capucines aus dem Jahr 1840 zeigt eine nahezu menschenleere Straße: Lediglich ein Schuhputzer und sein Kunde sind zu sehen - die einzigen Personen, die während der langen Belichtungszeit ausreichend stillgehalten hatten. Dieses Ruhigstellen empfand man zunächst als Mangel des neuen Mediums. Die fotografischen Versuche von Muybridge und Étienne-Jules Marey aber ermöglichten es, die Zeit in Einzelmomente zu zerlegen, ein Gefühl für ihr Vergehen und ihre Dauer abzubilden. Der systematische und analytische Versuchsaufbau diente schließlich als Beweis für wissenschaftliches Vorgehen, das mit den fotografischen Bildern gewissermaßen objektiv belegt werden konnte.
Die Konzeptkunst der 1960er und 70er Jahre griff auf die Serien von Mo-net und Muybridge wieder zurück, sei es, dass Sol LeWitt sich mit Muybridges Serie einer gehenden Frau auseinandersetzte, oder Roy Lich-tenstein Monets Bilder der Kathedrale von Rouen aufnahm und neu inter-pretierte. Mel Bochner stellte mit Blick auf die Arbeiten seiner Kollegen fest: "Serial order is a method, not a style". Dieses Diktum gilt auch für die 'Timescapes' von Michael Ruetz. Für ihn sind dies, wie er schreibt, Ausei-nandersetzungen mit Licht und Zeit: "Das Licht ist das Medium der Zeit: es macht sie sichtbar, fühlbar und erkennbar. Die Wandlungen des Lichts sind mit dem Lauf der Zeit und ihren Wandlungen im Gleichklang. Das Licht ist unlösbar an die Zeit gekettet – als etwas, das sich niemals gleicht und immer anders ist." Diese These ist Ausgangspunkt von 'Timescape 817', sie nachzuvollziehen erfordert vom Betrachter wiederum ein wenig Zeit, sich auf die großen Fotografien, auf das Konzept und die Entde-ckung der Zeit in der Fotografie einzulassen.