„Wir wollen [...] hier die Märchen nicht rühmen, oder gar gegen eine entgegengesetzte Meinung vertheidigen: jenes bloße Daseyn reicht hin, sie zu schüzzen. Was so mannichfach und immer wieder von neuem erfreut, bewegt und belehrt hat, das trägt seine Nothwendigkeit in sich, und ist gewiß aus jener ewigen Quelle gekommen, die alles Leben bethaut.“ (Vorrede von Jacob und Wilhelm Grimm zum ersten Band der „Kinder- und Hausmärchen“, Kassel, 18. Oktober 1812)
Als Jacob und Wilhelm Grimm zu Anfang des Jahres 1813 die ersten Exemplare ihrer ‚Kinder- und Hausmärchen‘ in den Händen hielten, war ihr Welterfolg in den seither 200 Jahren nicht absehbar. Ihr Freund Achim von Arnim, dessen kleinem Sohn sie das Werk gewidmet hatten, dankte ihnen zwar und meinte: „Ich sag Euch im Namen meines Kindes herzlichen Dank. Es ist ein recht braves Buch, das sicher lange gekauft wird.“ Der Absatz aber liess zu wünschen übrig. Erst als eine 1823 publizierte Auswahl daraus in englischer Sprache auf Anhieb grossen Erfolg hatte und die Brüder Grimm darauf 1825 ebenfalls eine ‚Kleine Ausgabe‘ publizierten, fanden die ‚Kinder- und Hausmärchen‘ auch in Deutschland zunehmende Verbreitung.
Zum wachsenden Erfolg trug aber auch bei, dass die Brüder Grimm die anfängliche Textgestalt mit jeder Ausgabe überarbeiteten. Einwendungen von Freunden folgend, die Sprache der Märchen sei nicht kindergerecht, versuchten sie, einen einheitlichen, mündliches Erzählen rekonstruierenden Märchenton zu treffen. In den Bearbeitungen setzten sich auch zunehmend biedermeierliche Vorstellungen von Tugenden wie Frömmigkeit, Demut, Bescheidenheit, Gehorsam, Pflichterfüllung, Fleiss, Reinlichkeit und Mitgefühl gegenüber Schwachen und Tieren durch. Im weiteren haben zur Popularität der Märchen die Illustrationen stark beigetragen, die mit den neuen Reproduktionstechniken möglich wurden.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts hatten sich die Kinder- und Hausmärchen in ganz Europa durchgesetzt, und im 20. Jahrhundert bediente sich auch die Traumwelt des Kinos in der Schatzkiste der Märchen.
So leben die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm auch heute noch. Kaum ein Kind, das ihnen nicht seine frühesten Begegnungen mit der Welt des Unheimlichen wie des Trostes zu verdanken hätte.
Vielleicht deshalb hält sich nach wie vor hartnäckig die Vorstellung, die Märchen seien aus der Wiege des Volkes gehoben, wo sie in langer Zeit mündlich tradiert worden seien. Die Märchenforschung hat jedoch die Quellen der Brüder Grimm teils bei italienischen (Basile, Straparola) und französischen (Perrault) Autoren gefunden, teils bei orientalischen Sammlungen wie den „Erzählungen aus 1001 Nacht“. Und je nach Standpunkt der Interpreten hat man in den Märchen Konstanten des menschlichen Seelenlebens oder Modelle erfolgreichen Stressmanagements, die Bestätigung des schlechten Bestehenden oder den utopischen Vorschein einer klassenlosen Gesellschaft gefunden.
Die Ausstellung rekonstruiert den Werdegang der Kinder- und Hausmärchen und dokumentiert ihre Rezeption. Vor allem aber zeigt sie ihre Wandlungsfähigkeit, die sie auch in den neuesten Medien überleben lässt.