1977 publizierte der Schriftsteller Alfred Andersch (1914-1980) den Essay „Einige Zeichnungen“ im Diogenes Verlag. Neben dem Text enthielt die kleine Publikation 24 Zeichnungen von Gisela Andersch (1913-1987) sowie einen kunstwissenschaftlichen Aufsatz von Wieland Schmied zu ihren Bildern, in denen „Geometrie und Poesie zueinander gefunden haben und gemeinsam ihr Lied anstimmen“. Anderschs Text wiederum versammelte „nochmals seine komplette Ästhetik eines denkenden Künstlers“ und war gleichzeitig „seine schriftliche Liebeserklärung“ (Stephan Reinhardt) an die Malerin, mit der er vierzig Jahre in einer Liebes- und Arbeitsbeziehung eng verbunden war.
Bereits in den fünfziger Jahren schuf Gisela Andersch (geborene Dichgans, später in erster Ehe verheiratete Groneur) die Umschlagbilder und -typographien für die Publikationen des damaligen Rundfunkredakteurs und Herausgebers Andersch, insbesondere für die „radio-essay“-Programmhefte des Süddeutschen Rundfunks Stuttgart, für die zwölfbändige Buch-Reihe „studio frankfurt“ und für die legendäre literarische Avantgardezeitschrift „Texte und Zeichen“. Sie gestaltete Umschläge für Anderschs Erstausgaben, u.a. des autobiographischen Berichtes „Kirschen der Freiheit“ (1952).
1958 zogen Alfred und Gisela Andersch mit vier Kindern in die italienischsprachige Schweiz, nach Berzona im Onsernonetal. Er hatte sich - nach langen Jahren als Gründungsmitglied der Gruppe 47 und als wichtiger und einflussreicher Vermittler bei Radio und Zeitschriften, u.a. für Arno Schmidt, Wolfgang Koeppen, Günter Eich, Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger, Nelly Sachs, Wolfgang Hildesheimer, Hans Magnus Enzensberger, Peter Weiss, Heinrich Böll, Ernst Jünger - für die unsichere Existenz als freier Schriftsteller entschieden. Gisela Andersch arbeitete weiterhin als freie Künstlerin mit regelmässigen Ausstellungen in Galerien und Museen. Vom Tessin aus unternahm das Paar regelmässig längere Reisen, u.a. nach Skandinavien und Italien. Künstlerische Frucht dieser Unternehmungen sind die beiden Reisebücher „Wanderungen im Norden“ (1962) und „Hohe Breitengrade“ (1969) mit erzählerischen Texten des Autors und Farbtafeln der Künstlerin. Für „Winterspelt“ (1974), den neben „Sansibar“ (1958) wichtigsten Roman von Alfred Andersch, bildete eine Zeichnung von Gisela Andersch die „Urzelle“ des grossangelegten Werkes, das während den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges in der deutschen Eifel spielt. In der Figur der Käthe Lenk gestaltete Andersch darin seiner Frau auch eine literarische Würdigung.
Anlässlich der 100. Geburtstage von Alfred und Gisela Andersch unternimmt die Ausstellung den Versuch, diesen langjährigen Dialog zwischen einem Schriftsteller und einer bildenden Künstlerin im 20. Jahrhundert zu dokumentieren. Entlang des zentralen Themenstrangs werden sowohl der Literaturvermittler wie auch der Autor von Hörspielen, Gedichten, Erzählungen, Essays und Romanen gewürdigt und seine grossen Themen, u.a. die zeitkritische Auseinandersetzung mit der Nachkriegsliteratur und die Willensfreiheit des Einzelnen, behandelt. Die Malerin, die mehrmals in Zürich (u.a. im Haus Konstruktiv und in der Galerie Suzanne Bollag) ausgestellt hat, wird mit ausgewählten Arbeiten aus verschiedenen Schaffensperioden, Themen und Motiven vertreten sein. Die Ausstellung beleuchtet die Wechselwirkung zwischen Sprach- und Bildwelten und zeigt, wie sich Alfred und Gisela Andersch auf ihren beruflichen Wegen unablässig begleiteten und unterstützten.
Das filmische Doppelporträt „Mann und Frau im Gehäuse“ (1973) von Percy Adlon vermittelt ein lebendiges Bild von zwei Künstlern, die sich ihre innere Freiheit bewahrt haben und sich trotzdem in Zuneigung sehr nahe geblieben sind.
„Prosa, Gedichte – meine Sprachwelt. Gleich nebenan entsteht eine Bild-Welt. Ich sehe zu, wie sie entsteht, seit fünfunddreissig Jahren. Die Bilder erscheinen auf den Wänden, verschwinden, erscheinen. Sie machen niemals den Versuch, mich einzuschliessen. Immer bleibt zwischen ihnen viel freier Raum. Sie gehen mir nicht auf die Nerven. Oft möchte ich sie festhalten, aber dann sind sie schon wieder fort. Sie sind nicht flüchtig, aber stets auf der Flucht.“ (Alfred Andersch, Einige Zeichnungen)