Westfalen ist Schweineland, hier hing früher der „Himmel voller Schinken“: In vielen Rauchabzügen der Kamine sah man das Fleisch zum Räuchern an einem Lattengerüst hängen. Das Verbraucherverhalten hat sich stark verändert: Galt es in den 1970er Jahren als gesund und lebenswichtig Fleisch zu essen („Fleisch ist ein Stück Lebenskraft“), haben „Gammelfleisch“- und „BSE“-Skandale den unbeschwerten Fleischkonsum getrübt. Mit der neuen Wanderausstellung „Darf’s ein bisschen mehr sein?“ führt der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) die Besucher mitten in die gesellschaftliche Kontroverse um Fleischverzehr und Fleischverzicht, um Massentierhaltung und industrialisierte Transport- und Schlachtverfahren. Die Ausstellung, die in der Zeit vom 27. September bis 22. November im Naturkunde-Museum Bielefeld zu sehen ist, versucht nicht, dem Thema seine Sprengkraft durch den Rückzug in Historie und Volkskunde zu nehmen. Sie fordert zu Wertung und Widerspruch heraus.
Trotz aller Skandale: Der Fleischkonsum stagniert in Deutschland auf konstant hohem Niveau. „Die Fleischindustrie muss sich noch keine Sorgen machen. Die Beliebtheit unserer Mahlzeiten hängt allerdings auch von Moden und Trends ab. Das Interesse an Ernährungsfragen wächst, und neben der Sorge um die eigene Gesundheit beschäftigt viele Verbraucher die Frage, was ethisch verantwortbares Essen ausmacht – das ist besonders beim Thema Fleisch der Fall“, sagt Verena Burhenne vom LWL-Museumsamt für Westfalen. „Ernährung ist eines der wichtigsten Themen der Zeit. Die Ausstellung versucht einen Beitrag zur Sensibilisierung der Besucher hinsichtlich ihres Fleischkonsums zu leisten“, so die Ausstellungsmacherin weiter. Die Schau zeigt auch die historische Entwicklung der Nutztierhaltung, die Entwicklung des Metzgerhandwerks und des Fleischverzehrs. „Es geht aber auch um ethische, ökologische und gesundheitliche Aspekte des Fleischverzichts“, so Burhenne.
Tierhaltung zur Fleischerzeugung hat in Westfalen-Lippe lange Tradition. Westfalen ist Schweineland. Mehr als ein Drittel aller Verkaufserlöse entfallen auf die Schweinehaltung. Damit kommt der Tierhaltung in der Region große Bedeutung zu. Die heute anzutreffenden Strukturen unterscheiden sich grundlegend von denen, wie sie noch vor Jahrzehnten üblich waren: „Um 1900 waren die landwirtschaftlichen Betriebe klein- und mittelbäuerlich strukturiert und beinhalteten fast alle Nutztierarten. Durch die Hochindustrialisierung – vor allem im Ruhrgebiet – und dem Wachstum der Städte kam der Wendepunkt von einer extensiven zu einer intensiven Tierhaltung: Die Betriebe stockten ihre Bestände auf und spezialisierten sich“, erklärt Burhenne.
Deutschland ist „Wurstparadies“. Es gibt eine breite Palette an Wurst- und Fleischprodukten. Nordrhein-Westfalen nimmt bei der Fleischproduktion eine Sonderstellung ein. Die Ausstellung thematisiert deswegen auch die Entwicklung von der Hausschlachtung zu den modernen Schlacht- und Zerlegungsbetrieben in Westfalen-Lippe. Der Schlachttag – meist im Herbst – war Höhepunkt des Jahres. Beim Schlachten und anschließenden Wursten und Einkochen des Fleisches halfen alle Familienmitglieder, manchmal auch Freunde, mit. Die Arbeit war aufwändig und anstrengend; Fleisch galt noch als etwas Besonderes. Die Ausstellung zeigt zahlreiche Geräte, die zum Zerlegen der Tiere dienten und mit denen das Fleisch weiterverarbeitet wurde.
Welche Art Fleisch und wie viel auf den Tisch kam, bestimmte lange Zeit vor allem der gesellschaftliche Stand. Durch den steigenden Wohlstand der Wirtschaftswunderzeit der 1950/60er Jahre kam Fleisch öfter auf den Tisch; der Sonntagsbraten krönte die Woche. Bis in die 1990er Jahre stieg der Gesamtfleischverbrauch in Deutschland – also auch in Westfalen-Lippe an. Bei 85 Prozent aller Verbraucher kommen Fleisch- und Wurstwaren täglich auf den Tisch. Den größten Anteil hat dabei das Schweinefleisch. „Im Schweineschlachten sind wir Europameister“, sagt Burhenne.
„Der Anteil an hochwertigem Fleisch aus der Region ist dabei aber sehr gering. Der größte Teil unsrer Fleisch- und Wurstwaren stammt aus Selbstbedienungsregalen der Supermärkte. Skandalös niedrige Preise machen es zu ‚Billigfleisch‘. Die Industrialisierung der Fleischproduktion hat viele negative Begleiterscheinungen“, so die Ausstellungsmacherin weiter. Dazu zählt sie neben den Lebensmittelskandalen, auch die Verbreitung von Antibiotika-resistenten Keimen. Der Ernährungsstil mit dem hohen Fleischkonsum wirke sich auch auf das Klima aus, sagte Burhenne: „Die intensive Tierhaltung ist einer der Hauptverursacher der großen Umweltprobleme. Viele Menschen sind deswegen auch der Meinung, dass die industrielle Erzeugung von Fleisch in der jetzigen Form nicht mehr zu rechtfertigen ist. Vegetarische Ernährungsformen verbreiten sich immer weiter. Der Vegetarismus ist aber keine Erfindung der Moderne. Seine Wurzeln reichen mehr als 2.500 Jahre zurück."
Die Wanderausstellung „Darf‘s ein bisschen mehr sein?“ führt ihre Besucher mitten in die gesellschaftliche Kontroverse um den Fleischkonsum, der in seiner derzeitigen Form an Massentierhaltung und industrialisierte Transport- und Schlachtverfahren geknüpft ist. „Die Ausstellung wagt sich mitten in das verminte Feld der ethischen Auseinandersetzung um Zucht, Haltung, Schlachtung und Konsum von Tieren. Sie versucht nicht, dem Thema seine Sprengkraft durch den Rückzug in Historie und Volkskunde zu nehmen“, sagt Burhenne. „Das Thema Fleischkonsum polarisiert, es fordert zu Wertung und Widerspruch heraus. Niemand in unserer stark fragmentierten Gesellschaft kann sich dem Topthema der Ernährung entziehen, jeder muss Position beziehen, denn jeden Tag müssen wir immer wieder neu entscheiden, was wir essen und welchen Preis wir dafür zahlen wollen – im engen wie im übertragenen Sinn.“
Die Ausstellung will ein Bewusstsein für ein „Schlüsselproblem“ unserer Gegenwart ver-mitteln. Sie will informieren ohne den mahnenden Zeigefinger zu heben und auf die Eigenverantwortlichkeit jedes einzelnen verweisen. Sie bietet facettenreiche Zugänge zum Thema und öffnet in einer Mischung aus geschichtlichen und aktuellen Bezügen neue persönliche Horizonte und stimuliert den gesellschaftlichen Diskurs.