Der Weg in den Ersten Weltkrieg, die »Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts« (George Kennan), war jenseits der militärischen Aufrüstung auf allen Seiten durch zunehmende gesellschaftlich-kulturelle und künstlerisch-ästhetische Konflikte geprägt. Aus Anlass des Gedenkens an den Ausbruch des ersten weltumspannenden Krieges vor 100 Jahren zeigt die Klassik Stiftung Weimar eine Ausstellung, die sich mit der besonderen Rolle Weimars als »Hort der deutschen Kultur« am Vorabend der Katastrophe und während des »Großen Krieges« auseinandersetzt. Ausgangspunkt der umfangreichen Schau ist das Phänomen, dass sich die Eliten der kriegführenden Länder in einen beispiellosen Krieg der Kulturen warfen, in dem es um die Deutungsmacht von Kultur und Zivilisation ging. So beleuchtet die Ausstellung den Prozess der intellektuellen Aufrüstung, der sich im Zuge der Nationalisierung im wilhelminischen Kaiserreich vollzog. Dabei geht sie unter kulturgeschichtlichen Vorzeichen der Frage nach, wie Weimar in dieser Entwicklung erneut zum Symbolort der deutschen Kultur wurde.
Im Fokus stehen ausgewählte Weimarer und Jenaer Protagonisten, deren Wirken von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs greifbar ist: Adolf Bartels, Eugen Diederichs, Rudolf Eucken, Ernst Haeckel, Harry Graf Kessler, Selma von Lengefeld, Elisabeth Förster-Nietzsche und Großherzog Wilhelm Ernst. Sie sind Modernisierer, Bewahrer, Nationalisten, Pazifisten und Neuidealisten. Die Vielfalt der Weltanschauungen, ihre Überschneidungen und Koexistenzen zeichnen ein ambivalentes Bild der Moderne. Diese Geisteselite steht in ihrem Denken und Handeln zugleich für eine gesamtdeutsche (und in Teilen europäische) Entwicklung, so dass Weimar in seiner Einzigartigkeit als Spiegelbild der Zeit betrachtet werden kann. Die Überhöhung des sogenannten klassischen Erbes sowie die Mythisierung der Stadt und ihrer Umgebung als gemütvolles »Herz Deutschlands« bilden die Folie, vor der die Ausstellung diesen bislang wenig betrachteten Teil Weimarer Historie auffächert.
Das Zusammenspiel unterschiedlicher historischer Perspektiven, wie der Kunst-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte, veranschaulicht den Facettenreichtum der Residenzstadt von der Jahrhundertwende bis zur konstituierenden Nationalversammlung im Jahr 1919. Zahlreiche, hier zum ersten Mal ausgestellte Zeitzeugnisse wie Gemälde, Graphiken, Plakate, Fotografien und Plastiken, Aufrufe, Kriegspropaganda, Bücher und Briefe vermitteln das geistige Panorama einer Epochenwende, in der Künstler, Literaten, Verleger, Bibliothekare, Archivare, Politiker und nicht zuletzt regierende Fürsten nach Orientierung suchten.
Der erste Ausstellungsteil zielt auf die strategische Ausrichtung der Residenzstadt als nationalen Erinnerungsort ab. Die Kulturpolitik unter dem seit 1901 regierenden jungen Großherzog Wilhelm Ernst bewegte sich zwischen Verehrung, Forschung und Aufklärung. Dennoch bildete die Beschwörung der Vergangenheit in den Museen, durch Denkmäler und Festumzüge einen wesentlichen Teil der überregionalen Wahrnehmung Weimars. So zog die Stadt einerseits Bewahrer und Traditionalisten an, andererseits bot sie auch einen wirksamen Resonanzboden für reformorientierte gesellschaftliche Bewegungen und neue wissenschaftlich-philosophische Weltdeutungsmodelle eines Friedrich Nietzsche, Ernst Haeckel oder Rudolf Eucken. Während auf der einen Seite Harry Graf Kessler und Henry van de Velde das »Neue Weimar« als Bühne der internationalen Avantgarde inszenierten, sammelten sich auf der Gegenseite national-völkische Bewegungen um Adolf Bartels, die Weimar als Zentrum »deutscher Wesenheit« für ihre Zwecke instrumentalisierten. Die Abgrenzung zwischen einer als »urdeutsch« angesehenen Kunst und einem als »fremdländisch« gewerteten Einfluss wurde allgemein schärfer und nationalistische Einstellungen gewannen die Oberhand.
Der zweite Ausstellungsteil steht ganz im Zeichen der Kriegseuphorie. Die überwiegende Mehrzahl der führenden Schriftsteller, Künstler und Gelehrten in Deutschland engagierte sich zunächst leidenschaftlich für die Kriegsanstrengungen. Unter Berufung auf Goethe und Schiller riefen sie zum »heiligen Krieg« auf, zur Verteidigung der deutschen Kultur. Viele maßgebende deutsche Intellektuelle unterzeichneten Manifeste, die sich auf die vermeintliche deutsche Kulturüberlegenheit beriefen – so auch Ernst Haeckel und Rudolf Eucken. Den berühmt-berüchtigten Aufruf »An die Kulturwelt« vom 4. Oktober 1914, der die Unterschriften von 93 deutschen Geistesvertretern trägt, unterzeichneten auch liberale und fortschrittliche Künstler. In dem Aufruf wurde die Anschuldigung, das deutsche Heer zerstöre europäisches Kulturgut, empört zurückgewiesen. In den Augen der Weltöffentlichkeit schien sich das hässliche Bild des »barbarischen Hunnen« hingegen zu bestätigen. Die Ausstellung verfolgt diesen »Kulturkrieg« exemplarisch aus Sicht der tonangebenden Weimarer Protagonisten und der Verwalter des klassischen Erbes. Diejenigen also, die an Kanzel und Katheder, am Schreibtisch, im Archiv und Museum zurückgeblieben waren, leisteten nun ihren vaterländischen Dienst an der intellektuellen Heimatfront. Während die Mehrheit sich trotz des Desasters an der Front weiter in den Dienst der geistigen Mobilisierung und der Durchhalte-Propaganda stellte, gab es nur wenige Vertreter, die zunehmend am Sinn des Krieges zweifelten oder sich zu Pazifisten wandelten.
Der Epilog wirft schließlich einen Blick auf die weitere Entwicklung der weltanschaulichen und gesellschaftspolitischen Debatten nach der Revolution und der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrags. Angesichts der neuen Fraktionen und Verhärtungen war die symbolträchtige Verlegung der konstituierenden Sitzung der Nationalversammlung von Berlin nach Weimar zu Beginn des Jahres 1919 von zentraler Bedeutung, um den »Einheitsgedanken, die Zusammengehörigkeit des Reiches« (Friedrich Ebert) zu stärken. Scheinbar unbeschädigt von der Instrumentalisierung in den Kriegsjahren konnte der »Geist von Weimar« unter Berufung auf die humanistischen Werte der Klassik mit dem Aufbau des neuen Deutschen Reiches verbunden werden. Mit der gleichzeitigen Gründung des Bauhauses sollte zudem in Weimar aus der Konvergenz zwischen Künstler und Handwerker die Utopie einer Erneuerung der Welt durch Kunst hervorgehen.