"Das Ruhrgebiet ist noch nicht entdeckt worden", das sind die ersten Worte des Einleitungstextes von Heinrich Böll zu dem Bildband "Im Ruhrgebiet", den er zusammen mit dem Fotografen Chargesheimer im Jahre 1958 herausbrachte. Damit steht er im Widerspruch zu seinem literarischen Vorgänger Erich Reger, der 1929 die Entdeckung des Ruhrgebiets hundert Jahre zuvor beim Beginn der Industrialisierung angesetzt hatte. Aber dies ist nur ein Scheinwiderspruch, denn als Böll und Chargesheimer 1957 durch das Ruhrgebiet reisten, der eine mit der Feder, der andere mit der Kamera, dauerte das industrielle Ruhrgebiet noch an, ja hatte es gerade seinen Höhepunkt erreicht. 120 Millionen Tonnen – nie zuvor und nie wieder wurde im Ruhrgebiet so viel Kohle gefördert wie in diesem Jahr.
So beschreiben der Text von Heinrich Böll und die Fotografien von Chargesheimer das alte Ruhrgebiet: einen industriellen Ballungsraum, der völlig von Kohle und Stahl geprägt ist, die Zerstörung der Landschaft, die Gesichtslosigkeit der Städte, die Dominanz der schweren Männerarbeit. Böll/Chargesheimer konnten nicht ahnen, dass jenes Jahr 1957 zum Wendepunkt des Ruhrgebiets werden sollte, dass im Herbst 1957 die Kohlekrise und damit der Strukturwandel begann. In ihrem Text und ihren Fotos klingt das neue Ruhrgebiet trotzdem schon an. Es sind die Freizeit und die Unterhaltung, der moderne Konsum und der beginnende Autoverkehr, vor allem aber die Menschen in der alltäglichen Umgebung, ihrer zur „Heimat“ gewordenen Industrieregion, die sich zwischen die Bilder des alten Ruhrgebiets schieben. Und das einzige neu erbaute Gebäude, das Heinrich Böll in der Industrielandschaft beschreibt, ist eine futuristische Kirche, die das Ende 1957 gegründete Ruhrbistum als erste kulturelle Klammer des Ruhrgebiets symbolisiert.
Insofern steht das Buch von Böll/Chargesheimer an einer Schnittstelle der Ruhrgebietsgeschichte im vielleicht bedeutsamsten Jahr der Nachkriegszeit. Das Buch von Böll/Chargesheimer erscheint als großformatiger, für die Zeit fast überdimensionierter Bildband, der eindeutig den Schwerpunkt auf die Fotos von Chargesheimer legt. Diese sind meist doppelseitig, angeschnitten, fast plakativ und haben auf die Zeitgenossen einen ungeheuren Eindruck gemacht. Außerhalb des Ruhrgebiets erfuhr das Buch höchstes Lob, während im Ruhrgebiet ein Sturm der Entrüstung losbrach. Obwohl es ein Anliegen von Böll/Chargesheimer war, die Menschen, die „nirgendwo unpathetischer, einfacher und herzlicher“ seien, zu würdigen, fühlte man sich schlecht dargestellt.
Bereits ein Jahr später brachte der Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk ebenfalls einen aufwendig gestalteten Bildband heraus, dem im Laufe der nachfolgenden Jahrzehnte unzählige weitere Publikationen folgten.
Die Fotografien von Chargesheimer stehen somit am Anfang der Bildtradition zum Ruhrgebiet im Strukturwandel und haben zahlreiche Bildreportagen und Fotoprojekte zum Ruhrgebiet inspiriert. Der Band ist seit Jahren vergriffen und die Ruhrgebietsfotografien sind noch nie in Gänze, sondern nur in einer (kleinen) Auswahl in der Chargesheimer-Retrospektive im Museum Ludwig 2007/08 gezeigt worden. Im Rheinischen Bildarchiv befinden sich jedoch nicht nur die Negative fast aller Abbildungen, die im Buch Aufnahme gefunden haben, sondern darüber hinaus zahlreiche weitere Negative, die während seiner Fahrten durchs Ruhrgebiet entstanden und von gleicher fotografischer Qualität sind. Insgesamt liegen circa 1500 Negative vor, die im Rahmen des Buchprojektes gemacht worden sind. Sie bilden den Fundus zur Ausstellung mit Chargesheimers Ruhrgebietsbildern, die weit über den Bildband von 1958 hinausgeht und noch nie veröffentlichte Fotos zeigt. Dabei werden die über 200 Fotografien als Reprints und vereinzelt als Vintages mit den stilprägenden Bildbänden konfrontiert, die seit dem Chargesheimer-Band zum Ruhrgebiet entstanden sind, um eine Bildgeschichte des Ruhrgebiets entstehen zu lassen.