01.11.2009 - 31.12.2009
Es ist Nacht. Die heilige Familie verzehrt ihr karges abendliches Mahl im Licht einer einzigen Kerze. Und doch ist der Tisch in helles Licht getaucht: Die Heiligenscheine von Jesus und Maria erstrahlen in blendendem Glanz und lassen den Schein der kleinen Kerzenflamme verblassen. Die runde Tischplatte leuchtet und wirft ihr Licht auf die Gewänder der drei Familienmitglieder. Dahinter verschwinden die Umrisse in schemenhaften Schatten, kaum noch identifizierbar.
Der lothringische Radierer Jacques Callot zeigt in diesem Werk seine ganze Virtuosität: Grelles Licht neben absoluter Dunkelheit, zarte Gesichtszüge in verlorenem Profil, eine diffus beleuchtete, plane Wand als wirkungsvollen Hintergrund – überall erscheint die große Variationsbreite seiner feinen Linien und vielgestaltigen Schraffuren.
Die zärtliche Fürsorge von Joseph, der dem Jesuskind das Glas zum Trinken reicht und der sanfte Blick von Maria auf Vater und Sohn bergen bereits die Vorzeichen, die im interpretierenden Vers erläutert werden: "Wohlan denn, liebes Kind, trink diesen Kelch, dich erwartet ein anderer, der in größeren Händen nur den Tod bringt." Der Kelch gemahnt an jenen, den Jesus am Ölberg an sich vorübergehen lassen möchte, als ihm sein schreckliches Schicksal bevor steht – und den er nach innerem Kampf schließlich annehmen wird.
Jacques Callot war der bedeutendste Grafiker seiner Zeit, dessen meisterhafte Technik die nachfolgenden Kupferstecher und Radierer nachhaltig beeinflussen sollte. Seine ausgefeilte Kompositionen, sein großer Detailreichtum, das atmosphärische Licht- und Schattenspiel, dazu eine immense Themenvielfalt und Ausdruckskraft machten seine Drucke schon früh zu beliebten Sammelobjekten. So besaß auch Markgraf Friedrich V. von Baden-Durlach (1594-1659), Begründer des Karlsruher Kupferstichkabinetts, eine stattliche Anzahl von Radierungen des Künstlers, die sich seit über 350 Jahren in der Sammlung befinden.