01.05.2009 - 30.06.2009
Ein großes, unübersichtliches Gewimmel von nackten Leibern - erst auf den zweiten Blick sieht man hoch oben, etwas in den Hintergrund entrückt, den über der Weltkugel thronenden Christus, wie er am Jüngsten Tag Gericht spricht über die Menschen. Um ihn herum steigen die freudig erfüllten Seligen in den Himmel auf und scheinen sich schließlich in einer Gloriole aus Licht aufzulösen. Unten auf der Erde spielen sich derweil dramatische Szenen ab: Während auf der linken Seite die eben Auferstandenen betend ihre Aufnahme in den Himmel erhoffen, werden auf der rechten Seite die Verdammten von schrecklichen Teufelsgestalten in den Abgrund gezerrt. Genau in der Mitte zwischen Erlösung und Verdammnis wacht in schlanker Gestalt der schöne Erzengel Michael mit erhobenem Schwert und Schild.
Bei der großformatigen, in zwei Farben lavierten Zeichnung handelt es sich um den Entwurf für ein Glasgemälde, auch Scheibenriss genannt. Das hier vorbereitete Glasgemälde war Teil einer großen Passions-Folge von insgesamt 37 Bildern, deren Entwürfe komplett im Bestand des Kupferstichkabinetts der Kunsthalle erhalten blieben. Zielort für die heute leider zerstörten Glasgemälde scheint das ehemalige Kloster Gengenbach im Schwarzwald gewesen zu sein.
Schöpfer der Scheibenrissfolge war der Zürcher Maler Christoph Murer (1558-1614), der als einer der bedeutendsten Schweizer Künstler der Zeit um 1600 gilt. Das Jüngste Gericht von 1611 bildet den Schlusspunkt der Folge, an der der Künstler seit 1600 gearbeitet hat. Gleichzeitig ist es die letzte Zeichnung Murers überhaupt, der 1611 die Kunst aufgab und als Amtmann nach Winterthur ging. Damit kommt dem Jüngsten Gericht in vielerlei Hinsicht eine große Bedeutung zu und es verwundert nicht, dass sich Murer in besonders persönlicher Weise darauf verewigt hat. So erscheint in der oberen Kartusche begleitend zum Monogramm „CM“ Murers persönlicher Leitspruch: „Was ich inn Gott gehoffet hab, daran ist mir nichts gangen ab...“. In der Sockelzone ist in einem Lorbeerkranz das „sprechende“ Wappen der Familie Murer mit dem Mauerstück im Schildbild wiedergegeben. Rechts und links in der Kartusche steht seine ausführliche Signatur mitsamt Heimatort, Ämterbezeichnung und einer taggenauen Datumsangabe (26. August 1611). Zwei flankierende Putti mit Pinsel und Palette bzw. Tinte und Feder verweisen auf Murers Talente als Maler und Schriftsteller. Die Tatsache, dass der Künstler sein eigenes Wappen in die Komposition integriert, deutet darauf hin, dass er selbst der Stifter des Glasbildes war.
Die Kunsthalle Karlsruhe besitzt mit über 1000 Blatt die umfangreichste Sammlung an Scheibenrissen weltweit, die zu den ältesten Beständen des Kupferstichkabinetts zählt. Einen großen Anteil machen dabei die rund 140 Zeichnungen Christoph Murers aus. Im Herbst 2009 soll eine Auswahl der schönsten und bedeutendsten Blätter in einer Ausstellung gezeigt werden.