Die Geschichte der anthroposophischen Kunst im 20. Jahrhundert wird oft als eine Problemgeschichte voller Rätsel beschrieben. Schon der für das Forschungsgebiet notwendige Begriff „anthroposophische Kunst“ erweist sich als problematisch. In der anthroposophischen Literatur wurde der Begriff einerseits umstandslos verwendet oder mit Synonymen wie Goetheanumkunst, goetheanistische Kunst, anthroposophisch orientierte Kunst, durch Anthroposophie geprägte Kunst umschrieben. Andererseits wurde er auch gänzlich in Frage gestellt. So gibt es paradoxerweise eine anthroposophische Bewegung mit einer gut hundertjährigen Kunstgeschichte, die ihr Kunstschaffen in der Anfangszeit der 1910er bis 1930er Jahre vorwiegend als anthroposophische Kunst bezeichnete und seit den 1950er Jahren diesen Begriff zunehmend vermied, ablehnte und schließlich selbst den Inhalt des Begriffs als nicht existent erklärte. Aus dieser Motivation heraus hat sich das Ausstellungsprojekt AENIGMA. 100 Jahre anthroposophische Kunst entwickelt, das 2015 die Kunstmuseen im tschechischen Olmütz und in Halle (Saale) gemeinsam realisieren. Erstmals wird explizit die Frage gestellt: Gibt es so etwas wie anthroposophische Kunst und wenn ja, wie sieht diese aus?
Das Ausstellungsprojekt ist etwas Besonderes und Einzigartiges! Eine derartige Präsentation von Werken der bildenden und angewandten Kunst vor dem Hintergrund der Frage, inwiefern man von einer anthroposophischen Kunst innerhalb der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts sprechen kann und was darunter zu verstehen ist, hat es noch nicht gegeben. Die Ausstellung geht der Frage nach, wie sich von anthroposophischen Ideen beeinflusste Kunst vor 1945 darstellt. Es werden ausschließlich und erstmals Künstler vorgestellt, die Mitglied der 1918 gegründeten anthroposophischen Künstler- und Ausstellungsvereinigung AENIGMA waren oder zu Lebzeiten bewusst in anthroposophischen Zusammenhängen auftraten und ausstellten.
Das Ausstellungsprojekt ist zudem aus einem weiteren Blickwinkel von hoher Relevanz: Anthroposophische Kunst war im Gebiet der neuen Bundesländer zwischen 1933 und 1989/90 unterdrückt. De facto wurden anthroposophische Künstler seitens der Nationalsozialisten unter Druck gesetzt und verfolgt. Ihre Werke wurden beschlagnahmt oder vernichtet, dennoch wurden sie nach 1945 in der ehemaligen DDR in einer Weise ignoriert und übergangen, als ob sie nicht Opfer, sondern Täter gewesen wären. Mystik und Okkultismus waren in ein schlechtes Licht geraten, nachdem die Nationalsozialisten sich auf derartige Dinge beriefen. Obschon in der ehemaligen DDR, ebenso wie in der BRD, die Freiheit der Kunst verfassungsrechtlich festgeschrieben war, wurde die Doktrin des Sozialistischen Realismus von der Regierung verordnet und durchgesetzt – gegen die Widerstände von vielen Künstlern und Kunstinstitutionen wie der Burg Giebichenstein in Halle. Dies begründet gerade in den neuen Bundesländern ein nach wie vor in hohem Maße defizitäres Wissen über Anthroposophie und durch sie beeinflusste oder initiierte Kunst.
Eine Besonderheit stellt der Korrespondenzstandort Ostrau in der Gemeinde Petersberg im Saalekreis dar. Mit Ostrau ist das Museum über die Person Hans-Hassos von Veltheim und dessen Kunstsammlung seit Langem verbunden. Hans-Hasso von Veltheim (1885–1956) war über viele Jahre mit Rudolf Steiner befreundet. Sie tauschten Briefe, von Veltheim baute eine umfangreiche Sammlung anthroposophischer Schriften auf und beauftragte zwei Künstler aus Steiners Umfeld, Fe-lix Kayser und Maria Strakosch-Giesler, einer Schülerin Wassily Kandinskys, mit Entwurf und Ausstattung seiner Grabkapelle in der Ostrauer Schlosskirche sowie mit der Errichtung eines Grabdenkmals für seine Mutter. Die Grabkapelle ist im Kontext der anthroposophisch geprägten Sepulkralkultur in Deutschland etwas Einmaliges. In seiner Besonderheit und Einzigartigkeit stellt es ein immobiles Ausstellungsobjekt sondergleichen dar. Im Rahmen der Ausstellung wird in Ostrau in einer Kabinettausstellung zum Leben von Veltheims und zu seinen Bezügen zur Anthroposophie installiert.