Der Filmemacher Harald Bergmann hat sich ein Jahrzehnt mit Leben und Werk Friedrich Hölderlins (1770 bis 1843) beschäftigt. So entstanden vier Filme über einen der größten Dichter deutscher Sprache, die versuchen, den dichterischen Prozess und die Faszination Hölderlins mit den Möglichkeiten der Filmsprache zu erschließen. In seiner Installation “Hölderlins Archive“ führt Bergmann dieses reiche Filmmaterial mit seinen unterschiedlichen Perspektiven nun zusammen. Mit Experimental- und Dokumentarfilmelementen, z.B. mit Hilfe der trickanimierten Handschrift des Poeten, spürt Bergmann Hölderlins Dichtung nach und lässt so die Bewegungen des dichterischen Entstehungs- und Denkprozesses sichtbar werden, die er in filmischen Bezug zur Gegenwart bringt. Hölderlins Werk wird zudem der Rezeption, der Einschätzung durch Freunde, Zeitgenossen und der damaligen Literaturszene gegenüber gestellt. Doch nicht nur Zeitgenossen, wie Schiller und Goethe äußern sich zu Hölderlin. Harald Bergmann zeigt die anhaltende Wirkung und das Echo seiner Dichtung aus heutiger Sicht, so kommen u.a. Hölderlin-Herausgeber D.E. Sattler, der Philosoph Heinz Wismann, der Hirnforscher Detlef B. Linke, der Komponist Heinz Holliger, die Germanistin Anke Bennholdt Thomsen und mit Walter Schmidinger, einer der wichtigsten deutschen Rezitatoren zu Wort. Dadurch entstehen erhellende Korrespondenzen zwischen Materialien und Medien, Texten und Bildern, Orten und Personen. „Hölderlins Archive“ mit diesen Mitteln darzustellen heißt, sich dem Dichter und seinem Werk von heute aus mit den Strategien der zeitgenössischen Kunst zu nähern und ihn auf neue Weise wieder zu „lesen“.
Die Installation „HIN - Hölderlins Archive“ des Filmemachers Harald Bergmann in der Stiftung Moritzburg beruht auf dem Material der zwischen 1992 und 2003 entstandenen abendfüllenden Kinofilme „Scardanelli“, „Hölderlin Comics“, „Lyrische Suite“ und dem einleitenden Dokumentarfilm „Passion Hölderlin“, die mit großem Erfolg auf internationalen Filmfestivals und im Fernsehen gezeigt wurden. Fasziniert vom Variantenreichtum der Dichtung Hölderlins und dessen modern anmutender Montagetechnik vor allem des Spätwerks nähert sich Bergmann dem Dichter nicht historisch-biografisch an. Vielmehr transportiert er Hölderlin aus der Sprache und der Praxis seines Schreibens in die Gegenwart. Bergmann geht dabei von dem letzten Schriftenkonvolut, dem „Homburger Folioheft“ aus, in dem Hölderlin bis zu seiner Internierung in der Anstalt in Tübingen1806 Entwürfe für Gedichte und Textfragmente notierte. Er folgt dem Dichter bis in die Zeit im Tübinger Turm, als Hölderlin sich von seinem bisherigen Leben und Schreiben distanziert und sich in seinen letzten Lebensjahren selbst „Scardanelli“ nennt. Die einander schichtenartig überlagernden und ineinander geschobenen Texte des „Homburger Folioheftes“ lassen Hölderlins dichterisches Verfahren als radikales poetisch-philosophisch-ästhetisches Denken unmittelbar sichtbar werden. In den von ihm so benannten Klängen „heroisch – idealisch – naiv“ (HIN) formuliert Hölderlin sein eigentliches Anliegen: die umfassende Einheit von Natur, Geschichte und Mythos in wahrer Schönheit darzustellen. Die 3 Töne HIN sind es, aus denen, Hölderlin folgend, Wirklichkeit entsteht.
In der Installation „HIN - Hölderlins Archive“ nimmt Harald Bergmann im Geiste Hölderlins das Verfahren der Kombinatorik heterogener Elemente wieder auf, diesmal erweitert um die Idee des Archivs, das als eine Art Generator von potentiellen Möglichkeiten poetischen Erzählens verstanden wird. Texte und Bilder dieses multimedialen Archivs erscheinen deshalb nicht als verstaubte historische „Akten“, sondern sie werden in den Bildräumen Bergmanns selbst zu „Akteuren“. Es geht in „Hölderlins Archiven“ also nicht um das Festhalten und Ordnen von Material, sondern um dessen „Präsenz“ im Hier und Jetzt. Hölderlin, so die These, „lebt“ quasi noch in seinem Text, er ist daraus unmittelbar erfahrbar, wenn man ihn nicht aus der retrospektiven Perspektive erzählt.
Ausschnitte aus Bergmanns Hölderlin-Filmen und aus dem während ihres langen Entstehungszeitraumes angelegten audiovisuellen Archiv werden in Analogie zu der triadischen Konzeption Hölderlins als Montage in drei dreiteiligen und einer zweiteiligen Projektion sowie auf einem Oktogon von Monitoren gezeigt. In der Installation wird die Überlieferung von Hölderlin und seinen Texten durch Bergmanns filmische Mittel aufgefächert und erscheint in vielschichtigen, räumlich-zeitlichen Bezügen: die Animation von Hölderlins Schriften, das sich von Interpretationen möglichst frei haltende Sprechen seiner Texte durch bekannte Schauspieler wie z.B. Otto Sander, Udo Samel oder Walter Schmidinger, die als Nachrichtenticker erscheinenden Kommentaren berühmter Zeitgenossen, die rhythmisierten Bildfolgen Hölderlinscher Landschaften und Orte, die Assoziationen von Klängen und Musik und nicht zuletzt die Kommentare von Hölderlin-Kennern und „ganz normalen Menschen“ aus der Gegenwart. Film wird in der Installation als poetisches Verfahren eingesetzt. So komprimiert die Installation eine intensive, nichtlineare Gleichzeitigkeit von Text, Sprechen, Klang, Bild in einem Raum zwischen Fiktion, Reflexion und Kommentar, in dem Hölderlin und sein Universum unmittelbar erfahrbar werden.
In einem zweiten Ausstellungsraum bieten Bildvorlagen, Filmstills und Originalzeichnungen, die in den Filmen eingesetzt wurden, einen Einblick in den Entstehungs- und bildgenerierenden Prozess von Harald Bergmanns Werken.
Harald Bergmann wurde 1963 in Celle geboren. Er studierte Literatur und Philosophie in München, Film an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg und am California Institute of Arts, Los Angeles bei James Benning. Er erhielt den Niedersächsischen Medienpreis, für die Hölderlin-Trilogie 2007 den Hölderlin-Preis der Stadt und der Universität Tübingen, den Innovationspreis des Verbandes der deutschen Filmkritik, den Preis der Autoren von der Stiftung des Verlags der Autoren und den Adolf-Grimme-Preis 2009 für „Brinkmanns Zorn“ (2006). Harald Bergmann lebt in Berlin.