Im Jahr 2015 realisieren die Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart und die Galerien der Stadt Esslingen bereits zum dritten Mal je zwei Debutausstellungen im Bahnwärterhaus. Die erste Debutausstellung in diesem Jahr wird von Ülkü Süngün realisiert. Die Künstlerin, die in der Türkei und in Deutschland aufgewachsen ist, nutzt Fotografie und Installation, um sich Fragen um das Thema Asyl anzunähern. Die Ausstellung im Bahnwärterhaus beschäftigt sich speziell mit der Lebenssituation von Flüchtlingen und Asylbewerbern in der EU. Als Grundlage dient unter anderem das Format Fotoroman, welches bis in die 70er Jahre vorwiegend in Italien und in der Türkei ein populäres Unterhaltungsmedium war.
Ülkü Süngün entwickelt ihre Fragen zum Thema anhand eines Einzelschicksals. Ausgehend von einer Begegnung mit dem älteren georgischen Flüchtling Sergo Pipia und seiner kranken Ehefrau Marina, versucht sie ihre Lebensrealität und – umstände, Sehnsüchte und Sorgen nachzuvollziehen. Zu dem Zeitpunkt der Begegnung hat das Ehepaar bereits seinen Asylantrag zurückgezogen und wartet auf die Heimreise. Ohne eine gemeinsame Sprache sprechen zu können, entwickeln die drei einen Fotoroman mit dem Titel „Lauter Steine.“
In der Ausstellung wird der Fotoroman als raumgreifende Inszenierung zwischen Dokumentation und narrativer Fiktion präsentiert: Sergo Pipia sammelt zunächst Steine aus dem Fluss Lauter, der in der Nähe seiner Asylunterkunft in Kirchheim unter Teck vorbeifließt und gestaltet darauf detailreiche Reliefs mit Architektur- und Pflanzenmotiven. Am Ende kann er zaubern. Im Angesicht der Rückkehr kippt der Alltag ins Absurde. Aus dem Anspruch der persönlichen Begegnung, den sich Ülkü Süngün stellt, leiten sich Fragestellungen, Gefühle und eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Position innerhalb dieser Begegnung ab. Diesen Prozess macht die Künstlerin sichtbar. Die bearbeiteten Steine von Sergo Pipia und seine eigens entwickelte Präsentationsweise sind darüber hinaus Grundlage für die Installation „Lacrimarium Europae“ (Tränenglas von Europa) im Obergeschoß des Bahnwärterhauses. Ülkü Süngün nimmt die künstlerischen Motive von Sergo Pipia ernst und nimmt sie als Impuls auf, um über Überlebensstrategien der Flüchtlinge zu sprechen. In widersprüchlichen Wahrheiten, Scheinehen oder Glaubenskonvertierungen offenbart sich eine subversive Überlebensstrategie angesichts des gefürchteten und doch so begehrten Europa. Offizielle Dokumente und handgeschriebene Briefe, die in fremden Sprachen individuelle Flüchtlingsschicksale schildern, verbinden sich in der Ausstellung mit narrativen Fotografiesequenzen, persönlichen Objekten und fotografischen Umsetzungen von persönlichen Träumen und Visionen, die die Künstlerin aus der Begegnung mit vielen Flüchtlingen zusammensetzt.
Ülkü Süngün findet ein eigenes Format, um Fragen zu Flüchtlingsrealität und -politik in den Raum zu stellen. Der Fotoroman als Medium legt geradezu ein emotionales Interesse am Schicksal des Einzelnen nahe und lässt die Verhandlung und Kontextualisierung der politischen Verhältnisse umso schwieriger jedoch auch notwendiger erscheinen.