„Minami brachte mir japanische Götterbilder für religionshistorische Studien. Daikoku, der Gott des Glücks soll letzteres wegtragen, wenn man sein Bild weggibt“ - notierte der aus der Zürcher Region stammende Theologe, Pfarrer und Japanmissionar Wilfried Spinner am 24. November 1885 in Tokio in sein Tagebuch.
Die besagte Gottheit des Glücks, bzw. der reichen Ernten ist nur eine von vielen, die er in seine Sammlung religiöser Bildrollen aufnahm und nur eine von unzähligen, an die sich Gläubige und Pilger in Japan bis heute wenden. Sie bringen ihnen in Tempeln oder Schreinen Gaben dar und nehmen deren Abbild in Gestalt von Figuren, Amuletten oder Bildern mit nach Hause - in der Hoffnung auf Beistand, Schutz und Glück im Leben und in der Existenz nach dem Tod.
Seit 30 Jahren verwahrt das Völkerkundemuseum die Sammlung Wilfried Spinner: 80 überwiegend als Hängerollen montierte Papieramulette (ofuda) und ikonische Darstellungen von Buddhas, Bodhisattvas, Shintō-Gottheiten (kami), Heilsfiguren und fusionierten Gestalten aus den religiösen Traditionen Japans zur Edo- (1603–1868) und Meiji-Zeit (1868–1912). Ausgerollt und in den zeitgeschichtlichen Kontext gebracht, erweisen sich die auf den ersten Blick schlicht anmutenden Schwarzweiss-Drucke und Malereien als Schlüssel für das Verständnis real gelebter Glaubenspraxis der Bevölkerung, die sich wenig um Grenzen und Doktrinen kümmert und gerade deshalb vom europäischen Auge nur allzu oft als Ausdruck von Aberglauben taxiert wurde.
Tatsächlich aber begegnen uns in den Motiven und Aufschriften materielle Zeugnisse komplexen Wissens und bewusst vollzogener Handlungen in einem fein strukturierten sozial-religiösen Beziehungs-, Werte- und Vertrauenssystem. Durchdrungen von der Idee, Glaubensinhalte gezielt zusammenzutragen und wissenschaftlich-theologisch zu erforschen, hat uns Wilfried Spinner mit seiner Sammlung ein frühes und einzigartiges Zeugnis einer formgewordenen japanischen Gedankenwelt geschenkt.
Anlässlich des Gedenkjahrs zum 150. Jahrestag des Beginns diplomatischer Beziehungen zwischen Japan und der Schweiz wird die Sammlung Wilfried Spinner in Kooperation mit dem Asien-Orient-Institut (Abteilung Japanologie) der Universität Zürich erstmals öffentlich vorgestellt.