12.05.2007 - 16.09.2007
Die Wissenschaften waren seit jeher für Künstler Thema und Inspirationsquelle. William Turner interessierte sich für Geologie, Georges Seurat ließ sich von Studien der Physiker James Clerk Maxwell und Ogden Rood anregen, Wassily Kandinsky faszinierten neue Entdeckungen in der Atomphysik und Robert Smithson setzte sich mit der Entropie und den Gesetzen der Thermodynamik auseinander – um nur ein paar Beispiele unter vielen zu nennen. Die Wissenschaften nahmen Einfluss auf die künstlerische Formensprache, lieferten das Know How für die Ausführung bestimmter Kunstwerke, wurden zu Kunst deklariert, mit Kunst synthetisiert und von Kunst kritisiert.
Seit Ende des letzten Jahrtausends sind auffällig viele Künstler von einem erneuten Interesse an den Naturwissenschaften entflammt. Sie botanisieren Pflanzen, typisieren Kuhbefleckungen, bauen Beobachtungsstationen für Insekten, versuchen in offenen Laborsituationen mit Fröschen zu kommunizieren oder bei Probanden in Experimentalanordnungen Glücksgefühle zu erwecken. Sie bedienen sich des Wissenschaftsjargons, wissenschaftlicher Illustrationsformen oder erstellen eigenwillige Modelle.
Das NEUE MUSEUM WESERBURG BREMEN geht diesem aktuellen Phänomen in Form einer Ausstellung nach und grenzt sich dabei bewusst von vorausgehenden Projekten und Symposien zum Thema "Kunst und Wissenschaft" ab. Hatten diese nicht selten die Entdeckung von Gemeinsamkeiten von Kunst und Wissenschaft oder die Forcierung des Dialogs zwischen den "zwei Kulturen" (Charles Percy Snow) zum Ziel, so stellt die geplante Ausstellung in Rechnung, dass die zeitgenössische Kunst sich keineswegs der Wissenschaft immer weiter annähert oder gar in ihr aufgeht, sondern sich mit taxierendem Blick neben sie stellt
Insofern wird es nicht darum gehen "die Allianz von Kunst und Wissenschaft neu zu denken" wie in der Ausstellung Science + Fiction (Hannover u.a. 2003) oder in erster Linie Kooperationen zwischen Künstler und Wissenschaftler zu forcieren wie in Formule 2 (Amsterdam 1998). Es soll auch nicht darum gehen, sich auf eine spezielle Disziplin wie die Genforschung zu konzentrieren (Put on your Blue Genes, Berlin 2005). Die Ausstellung soll vielmehr dem aktuellen Diskurs entsprechend zeigen, wie zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler die Naturwissenschaften von ihrem eigenen bisweilen kritischen Standpunkt aus reflektieren und transformieren. Sie tragen so zu einem erweiterten Verständnis der Wissenschaften und ihrer Rolle in unserer Kultur bei. Zugleich zweifeln sie deren Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Objektivität an.
Schützenhilfe und Inspiration erfahren die Künstler bei ihrer Arbeit von Autoren wie Bruno Latour oder Donna Haraway, mit denen sie eine analytische und kulturanthropologische Sicht auf die westlichen Wissenschaften teilen. Künstlerische Strategien, die zur Anwendung kommen, sind die der Affirmation, des Fakes und der Ironie. Nie schwingen sich die Künstler dabei zum Richter über die Naturwissenschaften auf, deren schillernder Faszination sie sich selbst kaum entziehen können.
Auch die Naturwissenschaftler selbst beginnen sei einiger Zeit, ihre Disziplinen als von einem kulturellen Kontext abhängige zu begreifen und denken kritisch über die Rahmenbedingungen der eigenen Forschungsarbeit nach. Sie ermöglichen, wenn man so will, eine Art "ästhetische Distanz" zum eigenen Denken und Tun. Der Molekularbiologe, Wissenschaftshistoriker und Derrida-Schüler Hans-Jörg Rheinberger hat bereits auf eine – wenn zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch sehr zögerliche – Selbstreflexion der Naturwissenschaften hingewiesen, welche derjenigen der Künste ähnelt. Hier beginnt der Zusammenhang zwischen Kunst und Wissenschaft auf eine bisher noch nicht geahnte Weise interessant zu werden. Einerseits gibt es zunehmend den künstlerischen Experimentator, der das Wissenschaftsfeld erforscht und seine Werke als epistemische Objekte begreift, andererseits den Wissenschaftler, der beginnt wie ein Künstler oder Philosoph seine Praxis neu zu betrachten. Diese erst jetzt virulente Wechselbeziehung soll auch in die Ausstellung und in den Katalog einfließen.
SAY IT ISNÂ’T SO versteht sich als multimediale Ausstellung. Sie zeigt laborartige Installationen, Versuchsanordnungen, Archivierungen, Foto- und Videoarbeiten, in denen Kunst als Experimentalsystem, als Transformation naturwissenschaftlicher Fragestellungen, aber auch als sinnlich-ästhetisches Ereignis im Mittelpunkt steht. Indem die beteiligten Künstlerinnen und Künstler sich auf intensive Weise in die Denkformen, die experimentellen Vorgehensweisen, aber auch in das System der Vermittlungs- und Darstellungsmethoden der Naturwissenschaften einarbeiten, vermögen sie diese auf eine neue Reflexionsstufe zu stellen. Indem sie wissenschaftliche Gedankenmodelle aus einer für die Kunst notwendigen ästhetischen Distanz heraus erfahrbar machen, überführen sie ein wissenschaftsgläubiges Denken einer notwendigen Revision.
In der Ausstellung werden künstlerischen Positionen der 1990er Jahre, wie beispielsweise Arbeiten von Mark Dion (USA), John Isaacs (GB), Olaf Nicolai (D) oder Nana Petzet (D), ganz aktuelle künstlerische Werke und Haltungen gegenübergestellt. Letztere verweisen nicht nur auf die Brisanz der beschriebenen Thematik für die jüngste Künstlergeneration, sondern zeigen die Richtung, in welche sich der zukünftige Diskurs von Kunst und Wissenschaft entwickeln könnte, was nicht nur für die Kunstwelt von großem Interesse sein wird.
Das Konzept von SAY IT ISNÂ’T SO wurde in einem von Peter Friese und Guido Boulboullé innerhalb des Studiengangs Kunstwissenschaft an der Uni Bremen durchgeführten Seminars über 3 Semester vorbereitet. Außerdem wurde es in enger Zusammenarbeit mit Susanne Witzgall von der Akademie der bildenden Künste in München entwickelt, die eine ausgewiesene Expertin zum Thema ist. Somit handelt es sich bei SAY IT ISNÂ’T SO nicht nur um ein auf die Kunstwelt beschränktes museales Ereignis, sondern um ein auf mehreren Schultern ruhendes Forschungsprojekt, das seinen Mittelpunkt zwar unangefochten in der Ausstellung hat, aber von Vorträgen, Künstlergesprächen und verschiedenen Vermittlungsangeboten begleitet werden soll.
Teilnehmende Künstlerinnen und Künstler:
Brian Collier (USA), Mark Dion (USA), Galerie für Landschaftskunst (D), Henrik Håkansson (S), Frank Hesse (D), Carsten Höller (D), John Isaacs (GB), Christoph Keller (D), Szabolcs KissPál (H), Gerhard Lang (D), M+M (D), Carsten Nicolai (D), Olaf Nicolai (D), Nana Petzet (D), Theda Radtke (D), Tyyne Claudia Pollmann (D), Hannes Rickli (CH), Hinrich Sachs (D), Conrad Shawcross (GB), Herwig Turk / Günter Stöger (A), Judith Walgenbach (D)