Cabaret Voltaire, Foto: Zürich Tourismus
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Cabaret Voltaire

Foto: Zürich Tourismus
Foto: Zürich Tourismus
Cabaret Voltaire, Foto: Zürich Tourismus
Cabaret Voltaire, Foto: Zürich Tourismus

Spiegelgasse 1
8001 Zürich
Tel.: 043 268 57 20
Homepage

Öffnungszeiten:

Mo, Mi-Do 10.00-18.00 Uhr
Di 10.00-20.00 Uhr
Sa/So 11.30-18.00 Uhr

Claude Lévêque: Weisswald

07.09.2012 - 06.01.2013

Zu Beginn der Zusammenarbeit hat sich Claude Lévêque in Bezug auf das Cabaret Voltaire, als Geburtsort von Dada in der Schweiz, mit der Idee eines romantischen Spaziergangs beschäftigt. Eine Idee, die er aus einer Vorstellung der Schweiz als einen romantischen Ort schöpft. Dieser Vorstellung ging er in einer Recherchereise im Dezember 2011 in Zürich nach und wurde, kaum aus dem Zug gestiegen, im Weihnachtsmarkt des Zürcher Hauptbahnhof darin bestärkt. Der Swarovski Weihnachtsbaum bot eine monumentale Projektionsfläche für diese romantische, ja kitschige Vorstellung der Schweiz. Normalerweise möge er Weihnachtsbäume nicht, meinte Lévêque, aber dieser 15 Meter hohe Weihnachtsbaum, der mit Kristallsternen und -kugeln dekoriert war, sei aussergewöhnlich.
Während den wenigen Tagen, die er in Zürich und Umgebung verbrachte, hat er immer wieder mit einem gleichermassen detektivischen wie auch kindlichen Blick diese Vorstellung weiterverfolgt und sehr viele Eindrücke, Momente und Details fotografisch festgehalten, von denen wir als Begleiter nicht so recht wussten, wo es hinführen würde. Er hat in einem Kindergarten eine Holzbank photographiert, welche die Form einer Boa hatte oder einen kurzen, zurechtgestutzen Baumstamm im Vorgarten eines Hauses. Wir besuchten mit ihm die Dada Archive im Kunsthaus und verbrachten sehr viel Zeit damit alle Text in den Dada Magazinen, auf den Postern und Flyern zu lesen und genau zu studieren. Lévêque war fasziniert und begeistert von diesen Dokumenten und meinte, dass sie aufgrund ihrer Aktualität und Originalität heutzutage nochmals veröffentlicht werden sollten um jedermann zugänglich zu sein.
Weit ab von den klassischen Kunstorten und dem historischen Zentrum von Zürich sind wir zu Autoschrottplätzen gefahren, zu Sägewerken, in kleine Dörfer ausserhalb von Zürich und in Wälder. Lévêques Suche nach dieser Vorstellung und seine Neugier brachte uns an sehr einfache, elementare und für ihn auch faszinierende Orte. Mit Lévêques Augen gesehen, entdeckten wir so Zeitkapseln und anachronistische Orte, die in der Art scheinbar nur noch in der Schweiz existieren können. An diesen Orten zogen vor allem unerwartete Dinge, die in einer grossen Sorgfalt und mit viel Mühe von den Bewohnern hergerichtet wurden, Lévêques Neugier auf sich. Wie zum Beispiel spezielle Kompositionen von Alltagsgegeständen, Steckdosen, die aus gebürstetem Metall gefertigt wurden, Stühle von Restaurants, die aus massivem Holz geschnitzt waren oder eine Grillvorrichtung, die aus Gusseisen geschweisst wurde und mit einem raffinierten Zugsystem versehen war. Immer wieder lenkte er aber seine Aufmerksamkeit auf Bäume und Äste von Tannen und Linden, auf die Beschaffenheit des Waldes. Am Ende dieses dreitägigen Spaziergangs, der dank Lévêques Führung auch als ein romantischer Spaziergang bezeichnet werden kann, präsentierte er das Projekt «Weisswald» für die Krypta des Cabaret Voltaire. In dem Projekt fügt sich der erratische Blick des romantischen Spaziergangs zu einem Ganzen zusammen und vereint den Esprit und die Gegensätze des Geburtsortes von Dada. Lévêque ist der erste zeitgenössischen Künstler, der sich im Cabaret Voltaire nicht mit einem Dada Thema oder einem Dadaisten beschäftigt, sondern sich explizit dem Ort, als geschützten Gebärsaal von Dada widmet.
In der Zusammenarbeit mit Claude Lévêque haben wir bemerkt, dass er sehr poetisch arbeitet und mit seinen Installationen gewissermassen Gedichte schafft. Meist arbeitet er mit urbanen und industriellen Objekten und Infrastrukturen, man könnte auch sagen mit urbanen und industriellen Readymades. Für das Cabaret Voltaire fand er die Readymades aber in der vermeintlichen Natur der Schweiz. In seiner Arbeit versucht er diesen Dingen einen Widerstand zu geben, sich an ihnen zu reiben, bis er ihren eigentlichen Kern, ihre Essenz entdeckt, die er exponiert, damit sie unsere Wahrnehmung direkter und stärker tangieren. Er wählt Elemente aus unserem vertrauten Umfeld aus, vereinnahmt sie für sich und verfremdet sie, um den Betrachter gleichsam der Gewalt der nackten Tatsachen auszusetzen. Durch den präzisen Einsatz von Licht und Geräuschen in der Installation, wird das sonst starke Subjekt Natur zu einem beunruhigenden Objekt, das den Betrachter zwischen verschiedenen Zuständen wie Freiheit und Gefangenschaft, Geborgenheit und Gefahr, Magie und Banalität oder Verführung und Ekel changieren lässt.
Eine starke Referenz von Lévêque, die ihm auch immer wieder Inspirationen und Ideen gibt, ist die Arbeit von Michel Foucault. Sie hat ihm auch geholfen, seine Arbeit weiterzuentwickeln. Man muss allerdings nicht Foucault gelesen haben, um die „Topoi“ zu erfahren, die Lévêque in seiner Arbeit gegeneinander antreten lässt. Man erfährt am eigenen Leibe, was mit den Konzepten von Entropie und Heterotopie gemeint sein könnte. Aus den intellektuellen Konzepten von Foucault schafft Lévêque körperliche Erfahrungen.
«Le Grand Soir» (Französischer Pavillon an der Venedig Biennale 2009) und «Basse Tension» (Einzelausstellung in der Galerie Kamel Mennour, Okt./Nov. 2011) beschäftigen sich mit der Idee der Entropie. Der Begriff der Entropie stammt aus der Thermodynamik und beschreibt den Prozess, der in jedem isolierten System geschieht. So läuft eine anfängliche Ordnung immer auf eine maximale Unordnung zu, auf das Chaos, in welchem unsere geordnete Welt verschwindet.
«Weisswald» oder «Diamond Sea» (CRAC Sète 2010) funktionieren wie Heterotopien, die laut Definition, mehrere unterschiedliche Orte an einen physischen Ort binden, eine Gleichzeitigkeit von Utopie und realem Ort herstellen. So wird die Krypta des Cabaret Voltaire mit der Arbeit «Weisswald» wie eine von Kindern gebaute Hütte zu einem Ort der Imaginationen, die Höhle, Schiff, Gruft oder Palast sein kann. Mit den Augen von Lévêque gesehen, und mit Foucault gesprochen, kann auch die Schweiz eine derartige Zufluchtsstätte oder ein Kurort sein, an dem die Zeit und die Realität der restlichen Welt aufgehoben wird, einer Kaffeepause oder dem Zentrum eines Orkans gleich. So lädt «Weisswald» im Cabaret Voltaire zu einer überhöhten, bis zur Entartung gebrachten Träumerei ein, die unseren Abenteuergeist weckt und unseren Widerstand gegen eine kitschige Alltagswelt schürt, in der alles kontrolliert und beschönigt ist.

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