Fotografien wirken meist vertraut und verständlich, sie sind aufs Engste mit unserem tagtäglichen Leben verknüpft. Sie können uns aber auch bestechen – uns erstaunt, betroffen oder gefesselt zurücklassen. "Enigma – Jede Fotografie hat ein Geheimnis" befragt genau dieses Paradox. Vom renommierten französischen Fotohistoriker Michel Frizot kuratiert, zeigt die Ausstellung eine Auswahl seiner über Jahre auf Floh- und Trödelmärkten gesammelten, meist anonymen Fotografien – allesamt gewöhnlich und geheimnisvoll zugleich. Ihre Kunstlosigkeit versteht Frizot als "ein zusätzliches Mass an fotografischer Natürlichkeit, die nicht von Konventionen verschleiert ist." Entlang einer eigens entwickelten Systematik werden jene Sonderbarkeiten untersucht, welche die Kamera hervorbringt. So ergeben die gesammelten Fotografien, von Familienmitgliedern, Geliebten oder unbekannten Profi- und Amateurfotografen geknipst, nichts weniger als eine Phänomenologie der Fotografie.
Das Moment der fotografischen Aufnahme schafft eine Distanz zwischen dem, was das Bild zeigt und dem, was wir selbst nur wenige Sekunden zuvor gesehen haben. Die Wahrnehmung dieser Differenz ist für das Phänomen der Fotografie von zentraler Bedeutung: sie führt zu einem Gefühl von Unbestimmtheit, die man als die Besonderheit des Fotografischen bezeichnen könnte. Nach Frizot ist "die Fotografie nicht so sehr eine Folie, über die wir Zugang zu einer uns bekannten Wirklichkeit erlangen, sondern, im Gegenteil, eine Quelle der Ambivalenz und häufig auch der Verwunderung. Das fotografische Bild richtet Fragen an den Blick, weil es dem Betrachter Formen und Zeichen bietet, die er so nie wahrgenommen hat und die von seinem natürlichen visuellen Register abweichen."
"Enigma – Jede Fotografie hat ein Geheimnis" untersucht die Auswirkungen dieses rätselhaften Dazwischen und richtet den Blick auf die Eigenheiten des fotografischen Prozesses. Dazu gehören die verschiedenen Modalitäten der fotografischen Aufnahme und jene Sinnüberschreitung, die vor allem aus der Beziehung zwischen Fotograf, fotografischem Gegenstand und der Funktionsweise der Kamera resultiert. Belichtungszeit, Ausschnitt, Detailreichtum oder auch die Transformation von dreidimensionalem Raum auf eine zweidimensionale Fläche bestimmen in erheblichem Masse formale Konsequenzen. Gleichzeitig sind die physikalischen Prozesse auch abhängig von den blitzschnellen Entscheidungen des Menschen hinter der Kamera. So führt der Widerspruch zwischen der Genauigkeit einer physischen Welt und der Entscheidungsfindung des Fotografen zum Rätselhaften in der Fotografie.
Enigma untersucht auch die Komplexität des Dialogs mit dem fotografischen Gegenstand, der sich im wechselseitigen Blick verkörpert findet. Der fotografische Akt hat etwas quasi-Magisches: er vermag es, menschliche Formen und Gesten aufzuzeichnen und so emotional aufgeladenes zwischenmenschliches Erleben in ungewisse, interpretationsoffene Zeichen zu verwandeln, in ein Destillat des Affekts. Gleichzeitig sind diese Zeichen auf die Blickschärfe der Augen angewiesen, die das Foto erforschen: Die visuellen Kapazitäten der Betrachter sind ausschlaggebend, wenn es darum geht, die enorme Datenfülle einer Fotografie zu interpretieren. Doch das Rätsel der Fotografie entspringt auch den Unzulänglichkeiten oder dem Gefangensein eines noch so prüfenden und engagierten Blicks. Enigma versammelt eine beeindruckende Auswahl von Alltagsfotografien, über viele Jahre zusammengetragen von einem der schärfsten Beobachter in der Geschichte der Fotografie. In 11 Kapiteln wird erfahrbar, wie die Fotografie die menschlichen Sinne überwältigen kann anhand der vielen Rätsel, die sie uns aufgibt. Die Ausstellung bietet einen befreiten Blick auf einen "reinen" fotografischen Akt, ohne künstlerische Prätention und historische Vorzeichen. Die Fotografie, so Frizot, kennt keine Hierarchien: Es ist der Akt des Schauens, der den Reichtum eines Bildes zum Vorschein bringt. Für das Auge versteckt sich hinter jeder Fotografie ein Geheimnis.