© goldpix / www.fotolia.de
KULTURpur - Wissen, wo was läuft!

Fotomuseum Winterthur


Grüzenstrasse 44/45
8400 Winterthur
Tel.: 052 234 10 60
Homepage

Öffnungszeiten:

Di, Do-So 11.00-18.00 Uhr
Mi 11.00-20.00 Uhr

Provoke: Zwischen Protest und Performance

28.05.2016 - 28.08.2016

Die japanische Zeitschrift Provoke erschien zwischen November 1968 und August 1969 in drei Ausgaben und gilt als einer der Höhepunkte der Fotografie der Nachkriegszeit. In der bisher grössten Ausstellung zu diesem Thema bietet das Fotomuseum einen umfangreichen Einblick rund um die Entstehungsgeschichte der Zeitschrift, ihre innovative Ästhetik und die massgeblich Beteiligten. Die 1960er und 1970er Jahre markieren eine turbulente Zeit in der japanischen Geschichte: Arbeiter, Bauern und Studenten protestierten nicht nur gegen die Geschwindigkeit, mit der die Modernisierung des Landes vorangetrieben wurde, sondern auch gegen Japans Bündnis mit den USA im Kalten Krieg. Die Ausstellung zeigt auf, wie stark die Fotografie in die ästhetischen und politischen Debatten der Zeit eingebunden war und ältere dokumentarische Formen hinterfragte und erneuerte. Mit rund 250 Objekten bringt Provoke Fotografien und Publikationen von einigen der einflussreichsten Fotografen Japans wie Nobuyoshi Araki, Daidō Moriyama, Takuma Nakahira und Shōmei Tōmatsu zusammen.
In der dreiteiligen Ausstellung wird die Fotografie sowohl im politischen als auch im künstlerischen Sinne als "performativ" definiert. Die Entstehung der Zeitschrift Provoke erscheint damit vor dem Hintergrund weit verbreiteter sozialer Unruhen, welche 1960 mit grossen öffentlichen Protesten gegen die Verlängerung eines Sicherheitsabkommens mit den USA ihren Anfang nahmen. Der Zusammenbruch der parlamentarischen Politik in Japan führte zur Explosion eines alternativen Journalismus, der unter anderem das fotografische "Protestbuch" hervorbrachte. Die Publikation wurde von Gewerkschaftlern, Studenten und Umweltaktivisten erstellt und dokumentiert 15 Jahre eines heftigen Kampfes, der Proteste gegen die Regierung und eine Bewegung zur Abschaffung von amerikanischen Militärstützpunkten auf japanischem Boden umfasste. Häufig sehr einfach produziert und innovativ gestaltet, fangen die Beiträge den Geist des gewaltsamen Protests ein und entwickeln eine Ästhetik körperlicher Anteilnahme und Entkopplung. Neben den Arbeiten der etablierteren Fotografen revolutionierte das "Protestbuch" durch seinen Umsturz der traditionellen humanistischen Formen dokumentarischer Darstellung auch die realistische Ästhetik.
Die Zeitschrift Provoke fand in dieser Kultur der turbulenten Erneuerung ihren Nährboden. Ihre Herausgeber, der Dichter und Kunstkritiker Takahiko Okada, die Theoretiker/Fotografen Takuma Nakahira und Kōji Taki sowie die Fotografen Yutaka Takanashi und Daidō Moriyama glaubten, dass sich die traditionelle Reportage erschöpft habe und suchten nach einer Bildsprache, mit der sich die Wahrnehmung einer sich rasant verändernden Moderne erneuern liess. Mit einem Fokus auf das städtische Umfeld behaupteten die drei Ausgaben von Provoke das Ephemere des fotografischen Blicks und seine Grundlage in der performativen Anwesenheit des Fotografen. Die Fotografie bildete nicht mehr die Realität ab, sondern war zum Anreiz für theoretische Überlegungen zur Beziehung von Kunst, Sprache und Gesellschaft geworden. Berühmt wurde das Magazin auch für seine Ästhetik des are-bure-boke (rauh, körnig, unscharf), das mit älteren, objektivierenden Formen eines dokumentarischen Humanismus brach. In ihren Experimenten mit verschiedenen fotografischen Reproduktionsweisen lieferten sich die Beteiligten mit anderen fotografischen Medien einen Schlagabtausch. Ihre Aufgabe war die Erneuerung der Bildfindung in einer zunehmend von Medienkonstruktionen beherrschten Gesellschaft.
Schliesslich untersucht die Ausstellung die Fotografie als eine Variante der japanischen Performance-Kunst sowie ihre Rolle bei der Dokumentation von Live-Aktionen. Hier geht es unter anderem um Kollaborationen von Fotografen und Künstlern, wie im Fall von Eikō Hosoe und dem Tänzer Tatsumi Hijikata, aber auch um die Arbeiten von Kollektiven wie dem Hi Red Center, welches die Fotografie und den Film ab 1964 als Modus sozialer Kritik in Performances einsetzte. Wieder andere, zum Beispiel Nakahira, Araki und Kōji Enokura, zeigten die Arbeit in der Dunkelkammer und weitere Prozesse der fotografischen Reproduktion als aktive Bestandteile einer performativen Verwandlung. In Jirō Takamatsus Fotografien von Fotografien treten die beinahe plastischen Aspekte des Mediums reflexiv hervor. Die Fotografie wird sowohl als Provokation wie auch als Performance verstanden – als eine philosophische und materielle Auseinandersetzung mit der Bedeutung fotochemischer Reproduktionsprozesse, wie sie für die Konzeptkunst der 1970er Jahre typisch war.
"Provoke: Zwischen Protest und Performance – Fotografie in Japan 1960–1975" wurde vom Fotomuseum in Zusammenarbeit mit der Albertina, LE BAL und The Art Institute of Chicago kuratiert. Zur Ausstellung erscheint ein reich bebilderter, 680-seitiger Katalog (Steidl; Englisch, mit deutschem Begleitheft der Haupttexte). Mit Texten von Duncan Forbes, Yukio Lippit, Walter Moser, und Matthew S. Witkovsky, Interviews mit Künstlern, ins Englische übersetzte Texte der Provoke-Akteure sowie ein Abdruck der drei Ausgaben von Provoke.

KULTURpur empfehlen