06.11.2011 - 31.12.2011
Eine Ausstellung zur zeitgenössischen indischen Kunst zu zeigen, ohne auf das immense Interesse an den Arbeiten indischer Künstler einzugehen, das auf dem Kunstmarkt und in den Museen in den letzten Jahren gewachsen ist, wäre wohl kaum möglich. Für dieses Interesse dürfte Indiens Rolle als eine aufsteigende wirtschaftliche Weltmacht maßgeblich verantwortlich sein. Schon die zahlreichen Presseüberschriften, die mit den Worten "Indien auf dem Weg zum...", "Indien schon bald..." oder "Auch Indien ist nun..." beginnen, führen die unglaubliche Dynamik des indischen Markts vor Augen - und deuten ebenso auf die damit einhergehenden sozialen Veränderungen. Die Faszination für die heranwachsende Generation indischer Künstler, die heute erfolgreich im Kontext dieser Veränderungen arbeitet, hat dazu geführt, dass indische Kunst - im Westen wie in Indien selbst - als "der aktuelle Trend" oder als "brandneue Marke" gepriesen wird. Jenseits solcher Behauptungen wird die wirkliche Stärke dieser künstlerischen Positionen aber dadurch bezeugt, dass sich viele der Künstler - nicht nur diejenigen, die als "Stars" gehandelt werden - erfolgreich vom Kontext "Indien" emanzipiert haben.
Dennoch darf man diesen Kontext nicht verleugnen. Er bildet die wichtige Kulisse für einen einzigartigen, fesselnden historischen Augenblick, eine Zeit ständiger Veränderungen und Umbrüche (und neuen Wohlstands), die das künstlerische Schaffen mit einem lebenswichtigen Energieschub versorgt. In Indien erweisen sich die speziellen Gegensätze von Tradition und Innovation, von wachsendem Wohlstand und anhaltender Armut, kolonialem Erbe und moderner Staatlichkeit insofern als besonders produktiv, als sie ein Kaleidoskop frischer visueller Resonanzen finden. Auch hat Indien diverse künstlerische Zentren und überhaupt besteht weiterhin die offene Frage, bis zu welchem Grad sich indische Kultur als spezifisch definieren lässt – die zeitgenössische Kunst einbezogen. Schließlich zeigen sich indische Gemeinschaften vielfältig und existieren an den unterschiedlichsten Orten im Land selbst sowie auf der ganzen Welt verteilt.
Die Ausstellung im Kunstverein Göttingen ist von dieser Komplexität inspiriert, aber nicht nur; sie ist auch in Folge der Gründung des Zentrums für moderne Indienstudien an der Universität Göttingen im vergangenen Jahr entstanden, eine Einrichtung, die interdisziplinär arbeitet und in Deutschland einzigartig ist. Die Arbeiten, die für die Ausstellung ausgewählt wurden verzichten größtenteils auf das Spiel mit Sensation oder Hype. Sie geben sich offen, zeigen Persönliches, Mögliches und lassen so die Komplexität traditioneller und medieninspirierter Sichtweisen auf Indien hervortreten: die geschichtlichen Spuren, die das Raqs Media Collective und die Otolith Group nachzeichnen; die persönlichen, manchmal düsteren Bilder von Bharat Sikka und Ratheesh T; die politischen Umkehrungen in den Arbeiten von Rajkamal Kahlon, mit dem PPR* Experience von Sylvia Winkler und Stephan Köperl; die Poetik der konzeptuellen Arbeit von Praneet Soi und Tisha Mukarji; die psychedelische und ausgesprochen weibliche Welt, die sich in den von Comics inspirierten Drucken von Chitra Ganesh auftut. Mit Sichtweisen aus Indien, aus der Diaspora oder aus dem Westen soll hier gefragt werden, was Indien heute "ist" oder "im Begriff ist zu werden", eine Fragestellung, die etwaige Antworten nicht auf feste Bahnen lenkt.