Für Emil Nolde (1867-1956) war „die absolute Ursprünglichkeit, der intensive, oft groteske Ausdruck von Kraft und Leben in allereinfachster Form“ ein wichtiges Element seiner künstlerischen Entwicklung und Bildfindung, alles „Ur- und Urwesenhafte immer wieder fesselte meine Sinne“ schreibt er in seiner Biographie. Noldes unstillbare Neugier auf das Unbekannte und Fremde ist einer der Grundzüge seiner Kunst. Sein Suchen und Streben galt der Unmittelbarkeit, der Unverfälschtheit, dem ‚Ur‘ schlechthin, das er in allen Bereichen des Lebens und Schaffens zu finden suchte: „Als Mensch und Künstler interessierten mich immer die ganzen Stufen des menschlichen Seins, von der Urnatur an bis zur Auflösung: Die Krieg und Jagd treibenden und Bananen pflanzenden Tropenmenschen, - die pflügenden, säenden und erntenden Bauern, - die geschäftigen, eilenden und sich verzehrenden Stadtmenschen […].“
Bei seinen Landschaften oder Meeren konfrontiert Nolde den Betrachter mit der unendlichen Weite, mit Himmel und Horizont. Bei Seestücken wie „Herbstmeer V“ (1910) oder „Durchbrechendes Licht“ (1950) verschmelzen Licht, Farbe, Wolken und Meer zu einem unauflöslichen Ganzen, in dem Nolde den Ursprung zu finden sucht: „Das große, tosende Meer ist noch im Urzustand, der Wind, die Sonne, ja der Sternenhimmel wohl fast auch noch so, wie er vor fünfzigtausend Jahren war.“ Diese Werke zeugen von Noldes tiefgründiger, fast religiöser Sehnsucht nach dem Leben im Einklang mit der Natur.
Gemälde wie „Kornmähen“ (1900/01 und 1940) oder „Dampfdreschen I“ (1911) schließen an Noldes Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend auf dem elterlichen Bauernhof an und zeigen sein persönliches und inniges Verhältnis zur Natur, zur Landschaft und auch zur Landwirtschaft. Dieses Themenfeld bewegt ihn bis ins hohe Alter. Er greift es nach fast 40 Jahren wieder auf und malt vergleichbare Motive wie „Heuernte“ (1936), oder er übermalt ältere Gemälde, wie es bei „Kornmähen“ der Fall ist.
Auch in der pulsierenden Großstadt Berlin sucht Nolde nach der Ursprünglichkeit: Er setzt sich nicht mit der Stadt an sich, also mit den technischen Neuerungen oder moderner Architektur auseinander, sondern mit dem Leben der Menschen, die sich in dem künstlich geschaffenen Kosmos von Tanz, Theater und Cabaret bewegen, wie die „Gesellschaft“ (1911). In dieses Leben taucht Nolde in Berlin ein. Er ging mit Ada nahezu allabendlich aus, besuchte die Theater, zeichnete in Varietés und auf Tanzböden und ließ sich durch das unruhige Leben der großen Stadt treiben: „selbst der nächtliche, verdorbene Großstädter erregte mich wie eine Fremdnatur […].“
Die Faszination am Fremden führt Nolde bei der Suche nach den vielen Facetten der absoluten Ursprünglichkeit immer wieder in die Ferne, am eindringlichsten und eindrucksvollsten bleibt seine Reise in die Südsee 1913/14: „Mein Interesse für das Fremde, das Urweltliche und das Urrassige war besonders stark“. Von Anfang Oktober 1913 bis zum Spätsommer 1914 kann er mit seiner Frau Ada an einer vom Reichskolonialamt in Berlin organisierten „Medizinisch-demographischen Deutsch-Neuguinea-Expedition“ in die Südsee teilnehmen. Anders als Paul Gauguin oder Max Pechstein will Nolde nicht am Leben der Eingeborenen teilhaben; sein Interesse bestand darin, „einige der ganz von jeder Zivilisation unberührte Erstheiten der Natur und Menschen kennenzulernen.“ Er bewundert das Elementare der Landschaft wie die „Palmen am Meer“ (1914), sieht aber die fortschreitende Kolonialisierung aus kritischer Distanz und als Gefahr. „Die Urmenschen leben in ihrer Natur, sind eins mit ihr und ein Teil vom ganzen All. Mit dem Verschwinden der Urzustände geht ein erster Abschnitt des Erdenseins vorüber.“ In seinen Werken faszinieren ihn die Menschen, die Urvölker, die er beispielsweise in dem Gemälde „Manusmänner“ (1914) als edle Wilde unentwegt zeichnet und aquarelliert: „Ich male und zeichne und suche einiges vom Urwesen festzuhalten.“
Für Nolde ist die Auseinandersetzung mit der Natur und dem Ursprünglichen der Urgrund seiner Kunst und gleichzeitig sein persönliches Bedürfnis. Nolde sucht die absolute Ursprünglichkeit in allen Lebens- und Erfahrungsbereichen: in den Landschaften seiner Heimat im deutsch-dänischen Grenzgebiet, dem nahen Meer, dem pulsierenden Leben der Metropole Berlin sowie dem Leben der Urvölker in der Südsee. Nolde nutzt diese Erfahrungen und lässt sie in seinem künstlerischen Werk aufgehen, denn die „Kunst muß aber immer in das ursprünglichste […] hineingreifen um Extract zu schöpfen u. Extract zu geben.“